Warum alle bisher bekannten Heilmethoden die Regeln des Organismus missachten…

Die Schulmedizin, die Funktionelle Medizin, das Biohacking und die klassische Naturheilkunde kennen oder beherrschen die Regeln der biologischen Heilkybernetik nicht

In unseren Behandlungen erkennen wir an, dass der Organismus ein offenes komplexes System ist, was seine eigenen Regeln hat. Diese Regeln erklären wir Ihnen durch Forschung belegt in diesem Artikel, der gleichzeitig auch die Systematik hinter unserer Methodik erklärt. Auf diese Regeln nehmen wir in dem vorliegenden Artikel immer wieder Bezug, weswegen wir Ihnen raten zunächst den Artikel zur Systematik zu lesen.

In der Grafik unten finden Sie das Ergebnis unserer Definition von Krankheit  (Start) und Gesundheit (Ziel), sowie des Heilweges zur Erlangung von Gesundheit:

In dem vorliegenden Artikel wollen wir erörtern, welche Konsequenzen sich aus der Systematik des menschlichen Organismus für eine wirklich ursächliche Behandlung ergeben und warum bislang bekannte Heilmethoden diese Kriterien nicht oder nicht vollständig erfüllen.

Drei Fehler treten dabei hauptsächlich bei linear denkenden Heilansätzen auf:

“Zum einen in der getrennten Betrachtung von Systemteilen und der dadurch bedingten Ignorierung von Rückkopplungen und Regelkreisen. Zweitens in der Tendenz – falls uns solche begegnen –, diese möglichst auszuschalten und bestehende Führungsgrößen festzuschreiben. Drittens in dem zu kurzen Planungshorizont, der solche Rückwirkungen nicht erfasst.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S. 39

Wir werden Ihnen mittels Differenzierung zur biologischen Heilkybernetik demonstrieren, dass alle bekannten Heilansätze mindestens einen dieser Fehler begehen und damit nicht als kybernetisch gelten können. Auf das Wesentliche reduziert sich die Kritik darauf, dass der schulmedizinische Heilansatz und das Biohacking linear und nicht komplex denken. Die Funktionelle Medizin und die klassische Naturheilkunde hingegen denken zwar in Ansätzen komplex, behandeln aber letztendlich leider linear.

Bei der biologischen Heilkybernetik handelt es sich um allgemeingültige Prinzipien, die den menschlichen Organismus als offenes komplexes System betreffen. Die Integrale Medizin als Behandlungsform leitet ihre Methoden und Behandlungsregeln von der biologischen Heilkybernetik ab. Diese Grundlagen der Behandlung werden am Ende dieses Artikels noch weiter differenziert und erweitert. Im nächsten Artikel wird es dann um die konkrete von uns angewandte Form der Integralen Medizin gehen, die Evogralis Methode. 

Wie bekannte Heilansätze “denken” und “handeln”

Die Schulmedizin

Die Schulmedizin glaubt, dass Krankheiten noch nicht besiegt wären, weil noch wesentliche Informationen zur Funktionsweise des menschlichen Organismus fehlen würden. Wir gehen allerdings davon aus, dass wir es nicht mit einem Informationsmangel zu tun haben, sondern mit der Unfähigkeit aus einer Informationsflut relevante Informationen zu extrahieren.

Uneffektiver Umgang mit Informationen

Die Betonung auf Quantität statt auf Qualität von Informationen entstammt der Angewohnheit den menschlichen Organismus als linearen Biocomputer zu begreifen, anstatt als offenes komplexes System. Dementsprechend werden in der Medizin genau die gleichen Fehler betrieben wie auch allgemein bei der Organisation von Informationen:

“So sind auch die Bemühungen unserer EDV-Spezialisten und der weltweite Datenzugang über das Internet meistens nur lineare Vorstöße, im guten Glauben, dass die Bewältigung der Komplexität des Systems vor allem nach mehr und genaueren Daten verlangt und eine Klassifizierung nach Obergegriffen genügt. Doch wachsende Datenmengen führen ähnlich wie wachsender Verkehr letztlich zum Chaos und damit zur Ineffizienz. Von einer besseren Beherrschung von Komplexität durch die schnelle automatische Datenübertragung kann jedenfalls keine Rede sein. Der Nutzen von Informationen liegt eindeutig in der Auswahl, nicht in der Fülle, in ihrer Relevanz, nicht im Übertragungstempo. Zur Erarbeitung systemverträglicher Strategien müssen also auch in der EDV die Weichen anders gestellt werden. Sie muss uns helfen anstelle möglichst vieler Punkte Muster zu erfassen.”

Frederic Fester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S. 24

Die von der biologischen Heilkybernetik informierte Integrale Medizin geht ganz anders mit Informationen um, nämlich so:

“Wir halten mit dem ständigen Fluss neuer Informationen durch einen Prozess der Vereinfachung durch Ersetzung Schritt: Mit der Zeit und schrittweise werden empirische Informationen (wie Messungen, Daten und komplexe empirische Modelle) durch viel kleinere zusammenfassende Aussagen (wie Konzepte, Formeln, konstitutive Beziehungen, Prinzipien und Gesetze) ersetzt. Empirische Fakten (Beobachtungen) sind extrem zahlreich, wie die Berghänge eines Flusseinzugsgebiets. Die Gesetze sind die extrem wenigen großen Flüsse. Eine Hierarchie von Aussagen entsteht auf natürliche Weise, weil sie den Informationsfluss erleichtert. Sie ist Ausdruck des nie endenden Kampfes aller Flusssysteme, sich selbst zu gestalten und umzugestalten.”

Adrian Bejan, Design in Nature, 2012, S.163

Denn ohne Komplexität zu reduzieren, also nur relevante Daten zu verarbeiten, werden Muster nicht erkennbar:

“Sollten wir uns deshalb nicht einmal fragen, warum denn die Natur keine Probleme mit der Komplexität hat, ihren gewaltigen Datenstrom offenbar ohne Probleme managt und demnach wohl anders damit umgeht als wir? Wie schafft sie es, daß die Abläufe der permanenten Informationsflüsse zwischen ihren hockkomplexen Systemen so elegant und sicher gesteuert werden? Zur Beantwortung dieser Frage ist es aufschlußreich zu wissen, daß eine Hauptaufgabe bei der Informationsverarbeitung lebender Systeme, und somit auch unseres Gehirns, gerade nicht die Erfassung möglichst vieler der über die Sinnesorgane einströmenden Daten ist, sondern Ihre drastische Reduktion.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, S. 23

Die Integrale Medizin bedient sich also der auf das Wesentliche reduzierten Regeln der biologischen Heilkybernetik. Gleichzeitig reduziert sie auch die Daten des Patienten auf das Wesentliche, indem sie nach Mustern sucht, die sie dann wiederum mit den Regeln der Heilkybernetik abgleicht. Die Zuordnung der Muster richtet sich dann wieder nach der hierarchischen inneren Organisation des offenen komplexen Systems.

Indem möglichst oben in der globalen Ebene der Hierarchie angesetzt wird, wenn es um die Steuerung des Systems geht, ergeben sich effektive Hebel zur Beeinflussung des offenen komplexen Systems, statt die regionale oder die lokale Ebene zu behandeln, die zwar zur Gesundheit des Systems als solches beitragen können, es aber nicht steuern:

Missachtung der hierarchischen Anordnung von Subsystemen

Während die Gesundheit der Basis (Zellen) zwar für die Energieversorgung der obersten Steuerung des Organismus (des Nervensystems) ausschlaggebend ist, reicht die reine Gesundheit oder Gesunderhaltung der Basis nicht, um das System zu steuern.

Die Schulmedizin erkennt jedoch die Wichtigkeit einer sinnvollen globalen Steuerung des Systems nicht an, bzw. setzt diese bei Erkrankungen immer noch voraus. Daher setzt sie bei Erkrankungen ihren Wirkhebel auch nicht global an. Sie ist aufgrund ihres Ansatzes Symptome statt Ursachen zu behandeln dazu gezwungen auf lokaler, höchstens der regionalen Ebene einzelne Regelkreisläufe auszuschalten.

In der Grafik unten findet sich ein typisches Beispiel dafür, indem Schilddrüsenhormone substituiert werden, um auf die lokale Ebene (Zielzelle) einzuwirken. Dabei wird die eigentliche Fehlsteuerung des Organismus nicht beachtet:

Natürlich ist auch der Schulmedizin bekannt, dass z.B. Hypothalamus und Hypophyse der Schilddrüse übergeordnet sind. Sie weiß auch, dass sich der Körper reguliert (Homöostase). Diese Regulation hinterfragt sie aber nicht und wirkt lieber auf die lokale Ebene, den einfachen Regelkreis, ein:

Dabei begeht sie einen Kardinalfehler im Umgang mit offenen komplexen Systemen:

“Statt von dieser Eigenschaft von Regelkreisen für unsere Belange Gebrauch zu machen, tendieren wir, anders als die Natur, bei der Begegnung mit diesem uns „fremden“ Mechanismus vielfach dazu, die Selbstregulation aufzuheben und den Regelkreis zu unterbrechen. So entstehen unter anderem falsche Zielsetzungen: etwa diejenige, bei der Störgröße direkt einzugreifen (das ist teure Symptombekämpfung statt mit geringem Aufwand an den Ursachen anzusetzen [z.B. Hormonsubstitution]). Auch bauen wir gerne den Regler aus (Korruption [z.B. Entfernung der Schilddrüse bei Überfunktion durch Morbus Basedow]) oder legen ihn lahm (Bürokratie [z.B. Organschäden durch schulmedizinische Eingriffe]). In anderen Fällen unterbrechen wir den Regelkreis beim Stellglied und heben seine automatische Funktion auf [z.B. Einsatz von Betablockern, damit Adrenalin die Gefäße nicht kontrahieren kann], indem wir Schulden machen [z.B. Aufputschmittel, die das Energieproduktionssystem dauerhaft schädigen], … . Oder wir nehmen die Information der Meßfühler nicht zur Kenntnis [z.B. Annahme von Krankheit erst bei Organschäden]…”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, S. 44, Anmerkungen und Fettkennzeichnungen von der Verfasserin dieses Artikels

Indem Regelkreisläufe lokal ausgeschaltet werden, wird das Problem dabei ursächlich natürlich nicht gelöst:

  • Sobald die Substitution beendet wird, stellt sich der Mangel in der Regel wieder ein
  • Zudem wird nicht beachtet, dass der Körper in vielen Fällen eingenommene Substanzen weiterverarbeiten kann. Substituiert man z.B. Progesteron, kann der Körper im Stress (Überlebensmodus) Kortisol oder Östrogen herstellen.
  • Werden keine naturidentischen, sondern künstliche Hormone verwendet, stellen sich die Rezeptoren des Körpers unter Umständen auf das künstliche Hormon ein, wodurch der Körper das eigene Hormon oft nicht mehr gut genug erkennt – der Mangel verstärkt sich
  • Da Hormone in einen Regelkreis eingebunden sind, stellt der Körper oft bei externer Substitution aufgrund einer negativen Rückkopplung weniger des körpereigenen Hormons her
  • Außerdem verstellt die Substitution von naturidentischen und erst recht von künstlichen Hormonen oft den eigentlichen Regelkreis nachhaltig, selbst Jahre nach dem Absetzen der Hormone – ein Phänmomen, welches wir Arzneikrankheiten nennen

Verstellung von Regelkreisen

All diese Manifestationen sind ein Ausdruck des fehlenden Verständnisses für den Sinn von Regelkreisen:

“Mit dem Prinzip des Regelkreises ist ein System in der Lage, Störgrößen, die von außen auf einen empfindlichen Systemteil, also auf die „Regelgröße“ treffen, aufzufangen und diese Störung selbsttätig – nicht durch Eingriffe – auszugleichen oder sogar zu integrieren. Bei der Selbstregulation werden die Sollwerte natürlicher Systeme, etwa das Gleichgewicht zwischen Raubtier und Beute, der Wasserstand in einem Flußsystem oder die Konzentration eines Hormons im Blut, durch eine selbstregulierende, sogenannte „negative Rückkopplung“ über Meßfühler, Regler und Stellglieder automatisch in einem systemverträglichen Bereich gehalten. Das System wird damit fehlerfreundlich, robust gegenüber Störungen und immun gegen Schwankungen in seinem Umfeld.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S. 42-43 

Unerwünschte Nebenwirkungen verschwinden oft auch nach der Beendigung einer Intervention nicht, da der Organismus als offenes komplexes System ein Gedächtnis und eine Historie hat. Beides ist wichtig, damit das System lernen kann. Lernen kann ein System aber nur dann, wenn es alle seine Regelsysteme zur Verfügung hat. Denn jedes Regelsystem weist auch Sensoren auf, die dem Gehirn als Chefkoordinator des Systems Informationen liefert, um Sollwerte (Zielgrößen) zu etablieren. Werden von außen Regelkreise ausgestellt, verändert das Gehirn seine Sollwerte zunächst zwar nicht automatisch, es versucht zu kompensieren. Werden alledings zu viele Regelkreise zu oft manipuliert, operiert das Gehirn mangels korrekter Rückkopplung auf Basis falscher sensorischer Informationen. Chronische Krankheiten werden dadurch nicht geheilt, sondern erst erschaffen:

“Chronische Pathologien entstehen als vorhersehbare Folge davon, dass das Gehirn hoch optimierte Systeme über die beabsichtigten Grenzen ihres Designs hinaus antreibt. Diese reichlich vernetzten Systeme passen sich alle an die Befehle des Gehirns an. Folglich schlägt eine Pharmakotherapie, die darauf abzielt, einen „Laborwert“ wieder in den Normalbereich zu bringen, häufig fehl: Das Gehirn nutzt einfach alternative Wege, um sein Ziel zu erreichen. Je mehr Wege blockiert werden, desto mehr kann sich der Laborwert normalisieren, aber die Person verliert an Funktionsfähigkeit.”

Peter Sterling, What Is Health?, 2020 S.222

Wer also einzelne Systeme verstellt, reduziert auf Dauer nicht nur die Selbstregulation, sondern auch die Selbstheilungskraft des Körpers.

Die Integrale Medizin setzt hingegen im Sinne der biologischen Heilkybernetik an entscheidenden Schaltstellen des Organismus an, indem sie den hierarchischen Aufbau des kybernetischen Systems nutzt.

Für die Heilbehandlung wird dabei immer an der hierarchisch höchsten Stelle im System angesetzt, während die Organ- und Zellebenen darunter lediglich entlastet werden. Den Unterschied zwischen Behandlung und Entlastung klären wir im Laufe dieses Artikels noch weiter.

Missachtung von Energiemängeln auf Zellebene

Eine andere Möglichkeit Regelsysteme auszustellen ist natürlich das Auftreten von Energiemängeln auf Zellebene. Denn wir erinnern uns: der körperliche Organismus als System ist letzten Endes zunächst ein Instrument zur Erneuerung und zukünftigen Erhaltung von Energieressourcen.

Über das Vorhandensein oder die Optimierung  von Energieressourcen wird allerdings bei der schulmedizinischen Behandlung von Hormonstörungen oder sonstigen Symptomen eigentlich kaum gesprochen. Energie wird einfach vorausgesetzt.

Zwar werden Störungen der energieproduzierenden Organellen auf Zellebene, den Mitochondrien, mittlerweile als Ursache für viele Erkrankungen anerkannt. Doch der Energiemangel aufgrund von Nährstoffdefiziten als Grund der Mitochondriopathie an sich wird eigentlich nie genannt oder behandelt. Stattdessen, wird, wie üblich, auf die Genetik verwiesen. Ein Beispiel dafür findet sich im folgenden Zitat:

“Mitochondrien sind einzigartige Organellen, die für die Energieerzeugung in eukaryontischen Zellen verantwortlich sind. …

Unter physiologischen Bedingungen spielen Mitochondrien eine Hauptrolle bei der zellulären bioenergetischen Aktivität und Energieerhaltung; …

 

Eine mitochondriale Dysfunktion (Mitochondriopathie) ist gekennzeichnet durch eine verminderte mitochondriale Biogenese, Veränderungen des mitochondrialen Membranpotenzials, eine verringerte Anzahl von Mitochondrien und Veränderungen in der Aktivität der oxidativen Kapazität aufgrund von ROS-Akkumulation. …

 

Mitochondriale Störungen werden als genetisch bedingte Syndrome beschrieben, die mit einer gestörten OXPHOS einhergehen und durch Mutationen von Genen verursacht werden, die von der mitochondrialen oder nuklearen DNA kodiert werden.”

Liskova et. al, Mitochondriopathies as a Clue to Systemic Disorders—Analytical Tools and Mitigating Measures in Context of Predictive, Preventive, and Personalized (3P) Medicine, 2021

Hier wird zwar schön und in großem Detail beschrieben wie die Mitochondrien erkranken, doch nicht warum. Der Ansatz aus möglichst vielen Details Lösungen extrahieren zu wollen ist bereits Beleg genug, dass kein komplexes Denken angewendet wird, was alleine dem offenen komplexen System gerecht werden könnte. Wobei natürlich auch längst bekannt ist, dass nur 2% aller Erkrankungen, die vormals als genetisch galten, tatsächlich genetischer Natur sind, wobei 98% epigenetischer Natur sind (siehe Bruce Lipton, The Biology of Belief, 2005, S. 27 ff). Das macht diese konventionellen Erklärungsansätze der Schulmedizin in Bezug auf die Mitochondriopathie kognitiv noch dissonanter, als sie ohnehin schon sind. Was der gesunde Menschenverstand gebietet, ist ja außerdem biologisch hinreichend belegt: ohne Energie kann kein Leben stattfinden. Natürlich können auch genetische und epigenetische Ursachen Mitochondriopathien verursachen. Aber ohne eine angemessene Nährstoffversorgung ist die Energieproduktion faktisch ausgeschlossen. Weswegen es völlig unverständlich ist, dass diese grundlegende Tatsache routinemäßig in medizinischen Forschungspublikationen ausgeklammert wird.

Fazit:

Die Schulmedizin setzt an einzelnen Regelkreisen an, um Symptome zu bekämpfen. Dabei arbeitet sie in Unkenntnis oder Missachtung der kybernetischen Ordnung, vor allem der Organhierarchie mit dem Gehirn an der Spitze der Hierarchie. Die für den Organismus lebenswichtige Zellenergie setzt sie voraus. Damit arbeitet die Schulmedizin gegen, statt mit dem Organismus. Ursächliche Heilungen geschehen in der Schulmedizin eher zufällig und selten aufgrund von Heileingriffen. Oft jedoch verstellt die Schulmedizin Regelkreise nachhaltig und schafft so neue Symptome und Blockaden der Selbstregulation (Selbstheilungskraft). Symptome können zwar aufgrund schulmedizinischer Maßnahmen verschwinden, dafür entstehen an anderer Stelle oft wieder neue. Dies spricht für eine zusätzliche Belastung der Selbstregulationsmechanismen, die lokale Eingriffe nicht mehr kompensieren können. Was der nachhaltigen Selbstregulationsfähigkeit des Systems als ganzes schadet, kann also nicht als (ursächliche) Heilung betrachtet werden.

Die Schulmedizin begeht insgesamt alle typischen Fehler, die zur Dysfunktionalität von Systemen führen. Sie betrachtet Systemteile unabhängig voneiander, da sie nicht ganzheitlich denkt. Sie interessiert sich nicht für Rückkopplungen, bzw. nimmt sogar aus der Ausschaltung von Regelkreisen auftretende Nebenwirkungen bewusst in Kauf. Der Planungshorizont bezieht sich dabei nur auf das einzelne Symptom, während langfristige Folgen der Symptomunterdrückung bei der Bewertung der “Heilung” unbeachtet bleiben.

Biohacking

Biohacking ist zwar keine Heilmethode, stellt den Anwendern aber dennoch mehr Gesundheit und Jugend in Aussicht. Daher versprechen sich auch immer mehr Menschen vom Biohacking als Alternative zur Schulmedizin Heilung von chronischen Ekrankungen. Es ist vor allem deswegen attraktiv, da es vor allem eine Selbsthilfemethode ist, die Kontrolle über den eigenen Körper suggeriert, wie Dave Asprey, der Begründer des Biohacking nahe legt:

“Biohacking ist die Kunst und Wissenschaft, die Umwelt um dich herum und in dir zu verändern, damit du mehr Kontrolle über deine eigene Biologie hast.”

Viele Menschen wenden sich dem Biohacking zu, weil sie von der Schulmedizin enttäuscht sind und zudem hoffen, dass das Biohacking so etwas wie eine wundersame Abkürzung zur Erlösung von all ihren Leiden ist. Der positive und negative Aspekt des Biohackings lässt sich aus folgendem Zitat Aspreys extrahieren:

Das Wichtigste, was Sie als Biohacker tun können, ist, darauf zu achten, wie Sie sich fühlen”, sagt Asprey. “Es gibt immer einen Grund, und der Grund liegt immer in der Welt um dich herum”.

 

Ein Biohacker würde zum Beispiel Schlaflosigkeit niemals einfach so hinnehmen und eine Schlaftablette einwerfen – er würde alles untersuchen, von der Temperatur seines Zimmers bis hin zu der Zeit, zu der er seinen Computer herunterfährt, und nach Zusammenhängen mit seinen Symptomen suchen. (Und vielleicht benutzt sie dazu sogar einen Tracker.)”

Dave Asprey in: The Beginner’s Guide to Biohacking, wellandgood.com/what-is-biohacking-dave-asprey/

Positiv an der Idee des Biohackings ist die Aufforderung den Körper im Bezug zu seiner Umwelt zu beobachten und Wechselwirkungen mit ihr zu beachten.

Dabei können z.B. Lebensgewohnheiten (z.B. Bettzeit, Ernährungsgewohnheiten) an natürliche Biorhythmen des Körpers angepasst werden, um die natürliche Funktion des Körpers (Physiologie) zu unterstützen. Milde Maßnahmen des Biohackings sind z.B. die Bestrahlung mit Licht oder Wechselbäder.

Dieses sinnvolle Vorgehen ist allerdings nichts Biohacking Spezifisches, sondern gesunder Menschenverstand bei jeder Heilmethode, die dem Patienten auch nur ansatzweise Verantwortung für seine Genesung zuschreibt.

Mehr Technologie, weniger Natur

Wobei die Erfahrung zeigt, dass viele Biohacker gerade nicht dazu in der Lage sind sich selbst zu beobachten, sondern sich auf allerlei technische Hilfsgeräte verlassen, und schlussendlich wieder nur Werte optimieren.

Um einiges bedenklicher wird das Biohacking, wenn Menschen ohne jede medizinische Ausbildung mit beachtlichen Mengen an Nährstoffen versuchen auf ihre Biochemie einzuwirken, damit sich schlechte Werte optimieren.

Dabei macht das Biohacking im Grunde nichts anderes als die Schulmedizin. Der Unterschied ist der, dass die Schulmedizin Symptome bekämpft und das Biohacking Funktionen steigern möchte. Gemeint ist damit die Leistungsverbesserung einzelner Regelkreise und nicht die kybernetische Funktion als Ganzes. Denn im Biohacking gibt es kein Konzept eines ganzheitlichen Organismus.

Wie das obige Zitat belegt, ist der Körper aus der Sicht des Biohacking im Grunde ein willenloser Automat, der willkürlich auf seine Umwelt reagiert. Wie später noch erörtert werden soll, ist der Versuch die Umwelt statt das eigene System zu verbessern ein weiterer typischer Fehler im Umgang mit dem offenen komplexen System. Eine innere Weisheit oder Systematik wird dem Organismus somit nicht zugeschrieben, weswegen einfach wild an Funktionen “geschraubt” wird, bis der Körper so reagiert, wie man ihn gerne hätte.

Vieles, was das Biohacking als positives Ergebnis wertet, ergibt sich aus einer erzwungenen Überstimulierung des Körpers, z.B. ein durch das Stresshormon Adrenalin vermitteltes Energiegefühl durch Fasten und Kaffee Trinken. Ein wirkliches Verständnis für die Produktion von Energie auf Zellebene zeigt sich dadurch nicht. Im Gegenteil. Die Stimulation von Notmechanismen wie den sogenannten Hungerstoffwechsel, der mit einer vermehrten Ausschüttung von Adrenalin einhergeht und energetische Notreserven aus Muskeln und Fett mobilisiert, schädigt unserer langjährigen Erfahrung nach auf Dauer die Mitochondrien nur noch weiter. Dadurch werden kybernetische Mechanismen als Ganzes geschädigt und der Körper kann immer weniger Energie gewinnen.

Hacks statt Ursachenforschung

Biohacker verbringen oft einen Großteil ihrer Zeit damit sich optimal vor der Umwelt zu “schützen”, z.B. indem sie mit Blaufilterbrillen herumlaufen oder nur spezielle thermoaktive Infrarotnachtwäsche verwenden. Trotz des großen Aktionismus ist damit das Biohacking aus der Sicht des Bewusstseins ein sehr passiver Vorgang. Es geht zu keiner Zeit darum z.B. dem Gehirn mittels Lernerfahrungen zu ermöglichen optimale Sollwerte im Sinne der Allostase abzubilden. Dem Biohacker wird suggeriert, dass Gesundheit und Glück sich offenbaren, wenn er nur all seine Hacks richtig und regelmäßig ausführt. Eine grundlegende Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigentlichen Regulationsmechanismen des Organismus kann so umgangen werden.

Der Selbstoptimierung sind dabei theoretisch keine Grenzen gesetzt, womit das Biohacking in die Nähe des Transhumanismus rückt. Denn ein “hack” ist nichts anderes als ein Trick, mit dem die Natur überlistet werden soll.

Fazit:

Das Biohacking bietet kranken Menschen neben einer Komponente des gesunden Menschenverstands keine wirkliche Alternative zur Schulmedizin. Hier wird lediglich an einzelnen Funktionen, statt an einzelnen Symptomen gearbeitet. Statt Medikamente werden Mikronährstoffe und andere biochemisch wirksame Substanzen verwendet, um Werte zu manipulieren. Das Konzept widerspricht sich im Grunde selbst, da die meisten Biohacker eher von Maschinen abhängig werden als ihren Körper besser kennenzulernen. Damit bringt das Biohacking Menschen mit seiner Abhängigkeit von maschinellen Messwerten noch weiter weg von der Natur als die Schulmedizin, weil er diese Maschinen bequem und häufig in Eigenregie bedienen kann und für ihre Verwendung nicht erst zum Arzt muss.

Das zentrale Problem des Energiemangels auf zellulärer Ebene wird beim Biohacking nicht systematisch und konsequenzt angegangen. Zwar gibt es im Biohacking Maßnahmen, die die Mitochondrien unterstützen sollen, aber genauso gibt es Maßnahmen, die ihnen unserer Auffassung nach schaden, wie z.B. die Hyperstimulierung des Organismus mit Kaffee. Somit wird das Thema Mitochondriopathie beim Biohacking zwar oft als Schlagwort genannt, doch ihre wirklichen Mechanismen werden nicht angegangen und in vielen Fällen noch verstärkt.

Wir haben außerdem die Erfahrung gemacht, dass viele Biohacker sich außerdem auf Dauer mit ihrer Selbstbehandlung ohne jede medizinische Kenntnis selbst schaden, häufig ohne es zu merken. Noch trauriger ist, dass viele Biohacker ihr Nichtwissen durch Coachings  auch noch an andere Menschen weitergeben, die allerdings genauso wie sie auf der Suche nach Wundern und Abkürzungen sind, die es nicht gibt.

Insofern begeht das Biohacking auch die exakt gleichen kybernetischen Kardinalfehler wie die Schulmedizin, weswegen wir es als Heilmethode nicht berücksichtigen können.

Die vernünftige Unterstützung von natürlichen Biorhythmen nennen wir daher im Gegensatz zum Biohacking lieber Biosyncing. Es ist uns wichtig herauszustellen, dass es nicht darum geht den Organismus mittels “hacking” zu knacken und somit gegen ihn zu arbeiten. Wir arbeiten ausschließlich mit dem Organismus, da die Naturprinzipien schlauer sind als der Mensch oder jede Maschine je sein wird. Daher beobachten und beachten wir die Naturprinzipien lieber als uns über sie zu stellen.

Funktionelle Medizin

Die Funktionelle Medizin ist als eine moderne Version der Naturheilkunde gedacht, die um moderne bildgebende Verfahren und vor allem Labortechnik erweitert worden ist. Sie wurde von Dr. Jeffrey Bland begründet. Häufiger als die klassische Naturheilkunde wird die Funktionelle Medizin auch von Ärzten ausgeübt, die von den Ergebnissen der klassischen Schulmedizin enttäuscht sind. Patienten wenden sich ihr ebenfalls zu, weil sie in der Regel von der Schulmedizin enttäuscht worden sind, möglicherweise aber einen “wissenschaftlicheren” Ansatz bevorzugen, als in der klassischen Naturheilkunde üblich. Nicht zu vergessen ist auch, dass in vielen Ländern nur Ärzte die Heilkunde ausüben dürfen, sodass teilweise den Patienten, die eine Alternative suchen, nichts anderes übrig bleibt, als sich der Funktionellen Medizin zuzuwenden. Jedenfalls dann, wenn sie sich nicht völlig unabhängig auf die Suche nach Lösungen machen wollen.

Die Funktionelle Medizin schreibt sich auf die Fahnen die Ursachen von Erkrankungen zu behandeln:

“Als Katalysator für die Umgestaltung des Gesundheitswesens behandelt die Funktionelle Medizin die Grundursachen von Krankheiten und stellt die gesunde Funktion durch eine personalisierte Patientenerfahrung wieder her.”

Definition auf der Seite des Begründers www.ifm.org/functional-medicine/ 

Ihr Ziel ist im Grunde die Konsolidierung der Medizin zu einer einheitlichen Systematik, die den individuellen Bedürfnissen von Patienten besser gerecht wird:

“Neue Grenzen in der Gesundheitsfürsorge werden also nicht nur dann erreicht, wenn neue Entdeckungen gemacht werden, sondern auch, wenn die Integration dieser Entdeckungen in ein kohärentes, vielschichtiges, einheitliches Gesundheitsfürsorgemodell den Weg für ein genaueres Verständnis und wirksamere Interventionen bereitet.”

Alex Vasquez, The Textbook of Functional Medicine, 2005, Kapitel: Web-like Interconnections of Physiological Factors, S. 36

Während wir natürlich das Ziel systematisch und ursächlich sowie individuell zu behandeln sehr begrüßen, stellt sich natürlich die Frage, ob die Funktionelle Medizin ihrem eigenen Anspruch gerecht wird, bzw. kybernetisch behandelt. Wir untersuchen also wieder, in wiefern die Funktionelle Medizin Systemteile getrennt betrachtet, Rückkopplungen missachtet, Regelkreise ausschaltet und zudem die daraufhin auftretenden Probleme aufgrund eines zu kurzen Planungshorizontes ignoriert.
Das obige Zitat legt bereits nahe, dass die Funktionelle Medizin einzelne Teilsysteme als nicht voneinander getrennt betrachtet. Das folgende Zitat untermauert diese Tatsache noch einmal:

“Um die wissenschaftliche Grundlage und die klinischen Anwendungen der Funktionellen Medizin und eines „ganzheitlichen“ Ansatzes in der Gesundheitsfürsorge zu verstehen, müssen Kliniker die Verflechtung der Funktion von Organsystemen mit biochemischen und physiologischen Prozessen vollständig verstehen. Vereinfachte Modelle von Gesundheit und Krankheit, die vor Jahrzehnten entwickelt wurden, sind möglicherweise nicht mehr zutreffend oder klinisch nützlich, da sie die in jüngerer Zeit entdeckten komplexen und vielschichtigen Zusammenhänge nicht widerspiegeln. (Abbildung 10.2 verwendet die Matrix der Funktionellen Medizin, um einen Teil dieser Komplexität darzustellen). Zahlreiche Mechanismen vermitteln diese Zusammenhänge, einschließlich, aber nicht beschränkt auf solche, die als biochemisch, hormonell, neurologisch, immunologisch, piezoelektrisch und physikalisch oder mechanisch beschrieben werden können. Letztendlich sind wir gezwungen, die künstlichen intellektuellen Grenzen, die wir zwischen den Organsystemen geschaffen haben, aufzulösen und unser Verständnis für die einzelnen Moleküle, die zellulären Botenstoffe und die physiologischen Mechanismen, die die interzelluläre Kommunikation vermitteln und die interorganische Funktion koordinieren, zu erweitern.”

Alex Vasquez, The Textbook of Functional Medicine, 2005, Kapitel: Web-like Interconnections of Physiological Factors, S. 32

Indem angeführt wird, dass Kliniker die Verflechtung der Funktion von Organsystemen mit biochemischen und physiologischen Prozessen vollständig verstehen müssten, wird klar, dass die Beteiligung von Regelkreisen innerhalb der Funktion des Organismus bekannt ist. Im  gleichen Textbuch werden wenig später auch die Wechselwirkungen von z.B. Verdauungstrakt und Leber oder Verdauunstrakt und Immunsystem besprochen. Sehr ausführlich wird dort auch das Geschehen innerhalb einzelner Organsysteme besprochen, z.B. die Wirkung von Endotoxinen aus dem Darm auf die Enzymtätigkeit von Cytochrom P450 in der Leber (Entgiftung).

Regional statt global

Allerdings reicht ein solches Wissen von Verflechtungen auf Organebene nicht aus, um Rückkopplungen vollständig zu erkennen. Dazu muss man sich zunächst einmal klar machen, dass die Organebene aus der Sicht des Gesamtorganismus hierarchisch gesehen die regionale Ebene bedeutet. Von einer globalen Steuerebene ist jedoch nirgends die Rede.

Untermauert wird die Gleichstellung aller Organsysteme im folgenden Bild, welches im Zitat oben erwähnt wird:

Indem in der Funktionellen Medizin alle Organe gleichwertig nebeneinander stehen, wird der hierarchische Aufbau des offenen komplexen Systems als das wichtigste Merkmal der optimalen Selbstrgulation (Allostasefähigkeit) verkannt.

Denn es reicht nicht zu erkennen, dass es Verbindungen zwischen einzelnen Organsystemen gibt, wenn man nicht genau sagen kann wie genau diese Verbindungen sich in Bezug auf den Gesamtorganismus auswirken. Dabei gehört diese Vorgehensweise zu den typischen Fehlern im Umgang mit offenen komplexen Systemen:

Die “Vermengung unterschiedlicher Systemebenen (übergeordnete mit Subsystemen) und damit nicht vergleichbarer Aggregationsstufen bei der Datenerfassung [Anm: Daten haben verschiedene Wertigkeiten in Bezug auf ihre Rolle im System]. Sie führt unweigerlich zur Informationsflut. Eine Reduktion auf die wesentlichen Ordnungsparameter bleibt aus – aus Angst vor Unvollständigkeit. Eine vollständige Erfassung aller Einzelfaktoren ist aber Utopie und nur bei geschlossenen Systemen denkbar. Unter dem Eindruck der  sich daraus ergebenden Datenschwemme werden dann oft die realen Dimensionen der Vernetzung (direkt, indirekt, Rückwirkungen, Zeitverzögerung) übersehen, obwohl gerade ihre Berücksichtigung die Datenmenge reduzieren würde. … Für die Erfassung des Systems ist dies die falsche wissenschaftliche Methode, die auch dadurch nicht „richtiger“ wird, dass man sie mit besonderer Akribie betreibt. Die Funktion der Systemkomponenten – ihre „Rolle“ …– wird auf diese Weise nicht bekannt. Um die Wirklichkeit als Ganzes zu erfassen, genügt es nicht, nur die Details aufzunehmen. So erfahren wir zwar sehr viel über diese Details, aber nichts über das System als solches. Wir müssen die Details auch miteinander verbinden – …”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S. 55

Wie im nachfolgenden Zitat in Bezug auf die Relevanz von Organsystemen nachvollzogen werden kann, sieht die Funktionelle Medizin z.B. die Ursache des Autismus in einer Vielzahl von Störungen in verschiedenen gleichwertigen Organsystemen:

“Wir wissen heute, dass Autismus eine vielschichtige Störung ist, die mit Magen-Darm-Entzündungen, Ernährungsmängeln, zahlreichen Nahrungsmittelallergien und -unverträglichkeiten, Beeinträchtigungen der Leberentgiftung und der daraus resultierenden Anhäufung von Fremdstoffen einhergeht, von denen die meisten neurotoxische und/oder immunotoxische Wirkungen haben. Autismus ist also nicht per se eine Verhaltensstörung, sondern eine gastrointestinale, allergische, immunologische, toxische, ernährungsbedingte und umweltbedingte Störung, und die Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven Störungen sind Symptome der zugrunde liegenden komplexen und miteinander verbundenen Pathophysiologie.”

Alex Vasquez, The Textbook of Functional Medicine, 2005, Kapitel: Web-like Interconnections of Physiological Factors, S. 33

Dabei ist zwar nicht falsch, dass alle diese Faktoren bei Autismus vorliegen und zu ihm beitragen. Aber wenn das Gehirn für die Selbstregulation ausschlaggebend ist, muss auch im Autismus eine wesentliche neurologische Komponente erkannt werden, was als solches aber von der Funktionellen Medizin nicht berücksichtigt wird. Dabei stimmen wir mit dem Autor des Zitats überein, dass die Verhaltensauffälligkeiten des Autismus lediglich ein Symptom sind, was aber eben nicht durch vielfältige Störungen beliebiger Organsysteme verursacht wird, sondern durch eine fehlerhafte neurologische Steuerung, die im Wesentlichen vielfältige organische Störungen begünstigt.

Methodisch, aber nicht strategisch oder systematisch

Diese Betrachtungsweise, dass alle Organsysteme für Erkrankungen gleichermaßen ursächlich seien, zeigt sich auch in der typischen Behandlungsweise der Funktionellen Medizin, die sehr viele Labortests anfertigen lässt und entsprechend viele verschiedene Phänomene gleichzeitig behandelt. Im Wesentlichen wird in der Funktionellen Medizin einfach alles behandelt, was sich als symptomatisch zeigt. Behandelt werden bei der Funktionalen Medizin aber unserer Erfahrung nach auch oft nur suboptimale Laborergebnisse, unabhängig davon, ob diese sich auch in Symptomen wiederspiegeln. Ein gezieltes Vorgehen in Bezug auf strategische Steuerebenen gibt es nicht. Bei dem obigen Beispiel des Autismus würden also der Verdauungstrakt, die Leber und das Immunsystem gleichzeitig behandelt werden, in der Hoffnung, dass das System als ganzes sich daraufhin von alleine reguliert.

Dass dies nicht der Fall ist, zeigt alleine die Notwendigkeit der Funktionellen Medzin mit Substitution zu arbeiten: von dem Ersatz für Magensäure, über Verdauungsenzyme bis zum naturidentischen Hormon, wird viel und oft von außen substituiert, was dem Körper fehlt. Damit werden auch von der Funktionellen Medizin Regelsysteme aufgebrochen und die Selbstregulationsfähigkeit des Körpers gemindert, wie bereits bei der Schulmedizin besprochen worden ist.

Mit diesem Reparaturverhalten zeigt sich im Grunde, dass die Funktionelle Medizin den Organismus als offenes komplexes System fast genausowenig verstanden hat wie die  Schulmedizin:

“Reparaturen, die die vorliegenden Wechselwirkungen meist noch weniger berücksichtigen als der ursprüngliche Eingriff selbst, sind nicht nur kostspielig (Prinzip „Intensivstation“!), sondern ziehen oft auch weitere Folgeschäden und Abhängigeren nach sich: Die negativen Rückwirkungen werden verstärkt und einer sehr viel sinnvolleren Prophylaxe die Mittel entzogen. … Anders als bei einer Maschine, bei der man einen Missstand, etwa einen gebrochen Bolzen, an Ort und Stelle beseitigen kann, führt diese Ersatzteilmentalität bei einem offenen komplexen System nur zu weiteren Folgerepaturen und ähnlich wie eine Symptombehandlung in der Medizin zu einem Abbau der Selbstregulation. Und das kann bedeuten: galoppierender Aufwand bis zum Zusammenbruch.

Ein sinnvolles Systemmanagement wird daher nicht versuchen, einen Schaden nach dem anderen dort, wo er gerade auftaucht, zu reparieren und damit den Ereignissen ständig hinterherzuhinken, sondern durch eine systemorientierte Planung und Steuerung die Weichen für eine andere Konstellation des Systems zu stellen, in der solche Schäden weniger Chancen haben aufzutreten.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S. 62

Mit anderen Worten: die Funktionelle Medizin gibt zwar vor das System als Ganzes zu behandeln, kommt aber auf der Erkenntnisebene lediglich zur regionalen Organebene. Wer die globale Steuerungsebene des Organismus aber nicht erkennt, kann am Ende wieder nur Symptome behandeln.

Die eingesetzten Mittel mögen zwar naturidentischer als schulmedizinische Chemie sein, z.B. indem naturidentische statt künstliche Hormone oder Beta HCL statt Lefax und Buscopan eingesetzt werden, doch das unkybernetische Behandlungsprinzip bleibt das gleiche.

Im Grunde reduziert die Funktionelle Medizin ihre Anwendungen fast ausschließlich auf den orthomolekularen Bereich (Mikronährstoffe), deren Notwendigkeit durch sehr viele spezielle Labortestungen ermittelt werden. Klassische naturheilkundliche Interventionen wie die klassische Homöopathie oder die Akupunktur sind kein Teil der Funktionellen Medizin, obwohl sie natürlich manchmal von Anwendern zusätzlich angewendet werden. Hierdurch ergibt sich auch eine Verwandschaft zum Biohacking, wo der Bezug zum eigenen Körper oder zum Körper des Patienten zugunsten von maschinellen Auswertungen und deren Behandlung der Vorrang gegeben wird.

Zwar arbeiten auch wir in der Integralen Medizin mit Mikronährstoffen. Die Frage ist allerdings, ob diese nach dem “Gießkannenprinzip” in den Körper geschüttet werden, um möglichst alle Labortestergebnisse abzudecken, oder ob diese strategisch und systematisch eingesetzt werden.

Strategisch und systematisch heißt in diesem Fall einerseits, dass Nährstoffe direkt zur Steigerung der Energiegewinnung eingesetzt werden. Eine Energiesteigerung sollte also keine zufällige Folge der Behandlung sein. Nährstoffe sollten Teil einer Gesamtstrategie sein, um den Stoffwechsel in eine Richtung Energieproduktion zu lenken. Dazu müssen Nährstoffe wirklich auf den individuellen Bedarf des Patienten abgestimmt sein und nicht einfach „gut bei“ oder „gut gegen“ ein bestimmtes Symptom sein. Das gilt selbst dann, wenn einem Nährstoff eine positive Wirkung auf die Mitochondrien, den Energiekraftzellen des Körpers zugeschrieben wird. Mikronährstoffe entfalten die ihnen zugeschriebene Wirkung nur, wenn sie tatsächlich auch gebraucht werden. Wird der Nährstoff nicht gebraucht, bleibt die Wirkung entweder aus oder verkehrt sich ins Gegenteil. Die Wirkung eines Nährstoffes ergibt sich grundsätzlich aus den Umständen, also dem Milieu oder „Boden“, auf welches er im Körper trifft. 

Andererseits muss zwischen Nährstoffen unterschieden werden, die den Körper akut entlasten (z.B. Lebertee) und solchen, die den Körper in die Lage bringen sich alsbald selbst zu regulieren, um sich danach entbehrlich zu machen (z.B. Katalysatoren für den Metallothionein Stoffwechsel). Wichtig ist also an dieser Stelle der Unterschied zwischen Therapie und Entlastung. Ganz grob kann man also sagen, dass therapeutische Maßnahmen die kybernetischen Fähigkeiten des Körpers in Richtung Allostasefähigkeit verschieben und daraufhin entbehrlich werden, während Entlastungsmaßnahmen den Körper von außen regulieren und nicht abgesetzt werden können, ohne dass der Körper in seinen vorherigen suboptimalen Zustand zurück fällt. Therapeutische Maßnahmen sind also Hilfe zur dauerhaften Selbsthilfe, während Entlastungsmaßnahmen nur Hilfe sind.

Echte therapeutische Maßnahmen erweitern immer die Möglichkeiten des Systems, indem sie den Körper dabei unterstützen seine Sollwerte von der Homöostasefähigkeit zur Allostasefähigkeit hin zu verschieben, sodass der Körper sich im Sinne optimaler Sollwerte selbst regulieren kann. Denn wie hier bereits besprochen worden ist, kann ein Organismus, der seinen Sollzustand lediglich in der Homöostasefähigkeit sieht, sich dauerhaft nicht gesund erhalten:

“Das Allostasemodell stellt die niedrig-schwellig arbeitende Pharmakotherapie der „System“-Therapie, die auf einem höheren Niveau arbeitet, gegenüber. Bei der Pharmakotherapie wird in der Regel versucht, einen bestimmten Parameter zu korrigieren. Ein Medikament blockiert einen Teil des Kreislaufs, um den Parameter wieder in den Standardbereich zu zwingen. Da das Medikament aber die Vorhersage [Anm: im Sinne der Reaktion des Gehirns] nicht ändert, rechnet der Regelkreislauf immer noch mit einem hohen Bedarf [Anm: der vorher durch den Regelkreislauf produzierten Substanz, z.B. eines “unerwünschten” Hormons] und verwendet seine verbleibenden Komponenten [z.B. das Prohormon Pregnenolon als Baustoff], um diesen auszugleichen. Das erfordert ein weiteres Medikament, um eine andere Komponente zu blockieren [z.B die Umwandlung von Pregnenolon in Kortisol], was eine weitere Kompensation auslöst, und so weiter. Je mehr ein Schaltkreis blockiert wird, desto instabiler wird er, und die Reaktionsfähigkeit sinkt. Außerdem blockiert jedes Medikament andere Schaltkreise, die dieselben Rezeptoren wie der Zielschaltkreis haben und daher ebenfalls auf das Medikament ansprechen. Die Systemtherapie versucht, diese Vorhersage [Anm: den Irrtum des Gehirns in Bezug auf den Sollwert] zu ändern. Das Ziel besteht darin, die Nachfrage so lange zu reduzieren, bis das System die neue Vorhersage „glaubt“ und sich neu anpasst [Anm: den optimalen Sollwert erlernt hat]. Während die Reaktionen des Organismus wieder in Richtung des ursprünglichen Mittelwerts driften [Anm: sich Werte normalisieren], wird der Reaktionsbereich beibehalten. Auch Schaltkreise, die dieselben Rezeptoren wie der Zielschaltkreis nutzen, können davon profitieren. Dies ist ein „Nebeneffekt“ der Systemtherapie – und zwar ein guter.”

Peter Sterling, What is Health?, 2020, S. 210-211

Da die Funktionelle Medizin sich aber bereits mit den selbst-regulativen Steuermechanismen der Homöostase nicht beschäftigt, kann sie natürlich erst recht nicht zwischen einer suboptimalen Steurung des Organismus (Homöostase) und einer optimalen Steuerung durch die Allostase unterscheiden.

Fazit:

Die Funktionelle Medizin gibt vor, ganzheitlich und damit integral zu denken. Tatsächlich bewegt sie sich auf der regionalen Organebene, dem mittleren Management, weil sie die eigentliche Steuerebene des Körpers, das Nervensystem verkennt. Im Gegensatz zur Schulmedizin berücksichtigt die Funktionelle Medizin im viel stärkeren Maße Wechselwirkungen zwischen Organsystemen, was Behandlungsverläufe teilweise günstig beeinflusst. Eine kybernetisch sinnvolle und damit integrale Methode ist die Funktionelle Medizin vom Ansatz her jedoch nicht. Dadurch entgehen ihr u.a. wie der Schulmedizin die langfristigen Folgen blockierter Regelkreisläufe, die sie durch ihre substitutive Behandlungen noch verstärken können.

Insgesamt wird die Funktionelle Medizin ihrem eigenen Anspruch auch in der Behandlung nicht gerecht. Sie behandelt genauso wie die Schulmedizin weiterhin Symptome. Man könnte zwar sagen, dass sie dies im Verhältnis zur Schulmedizin im Ergebnis etwas ausführlicher und teilweise daher auch erfolgreicher betreibt, weil sie möglichst viele Symptome gleichzeitig behandelt und zumindest Verbindungen zwischen Organsystemen erkennt und behandelt. Allerdings hat dies nichts mit dem kybernetischen Ansatz gemein, an entscheidenden Schalthebeln zu intervenieren, damit das System lernt sich durch die Etablierung optimaler Sollwerte (Allostasefähigkeit) selbst zu regulieren.

Die Funktionelle Medizin hat zwar erkannt, dass Vernetzungen im Organismus bestehen, ihre jeweils spezifische Relevanz für die Gesunderhaltung des Systems erkennt sie jedoch nicht. Damit kann sie natürlich auch keine kybernetisch informierte Behandlungsmethode anbieten.

Klassische Naturheilkunde

Die klassische Naturheilkunde wird meistens mit der Prämisse der Ganzheitlichkeit gleichgesetzt. Behandelt werden sollen nicht Symptome, sondern Menschen und Ursachen, indem die Selbstheilungskräfte angeregt werden sollen:

“Entsprechend der Orientierung des Heilpraktikers an einer ganzheitlichen Sichtweise steht nicht die Erkrankung, sondern der Mensch in seinem Kranksein im Mittelpunkt der Behandlung. Den Patienten als den Menschen zu sehen, der er ist, die körperlichen und psychischen Ursachen hinter den Symptomen zu ergründen, einen möglichen Sinnzusammenhang einer Krankheit zu begreifen, all das will in die therapeutische Arbeit des Heilpraktikers integriert sein. Erst dadurch kann das geistig-seelisch-körperliche Gleichgewicht wieder gewonnen, Sinnerfahrung gefördert und dem Patienten zu einem möglichst natürlichen Heilungsverlauf verholfen werden. … Die Aufgabe des Heilpraktikers besteht also darin, durch gezielte Maßnahmen die Heilkraft der Natur, damit ist auch die im kranken Menschen angelegte Selbstheilungskraft zu verstehen, einzusetzen und dauerhaft zu heilen.”

Elvira Bierbach, Naturheilpraxis heute, 2019, S. 2, Fettmarkierungen von der Verfasserin dieses Artikels

Während das Vorhaben den Menschen ganzheitlich zu betrachten und die Selbstheilungskräfte anzuregen zunächst einmal im Sinne der biologischen Heilkybernetik vielversprechend klingt, muss näher untersucht werden, inwiefern die klassische Naturheilkunde tatsächlich kybernetische Regeln anwendet.

Eine Naturheilkunde, viele Methoden

Das erste Problem an einer solchen Untersuchung ist natürlich, dass es nicht “die” Naturheilkunde gibt, sondern verschiedene naturheilkundliche Modalitäten wie z.B. Akupunktur, Homöopathie, Bachblüten, Kräuterheilkunde, Ayurveda, Kneipp Therapie, Schröpfen usw. Zudem wird die klassische Naturheilkunde, auch als alternative Medizin bezeichnet, manchmal auch mit der Schulmedizin kombiniert, wodurch sie zur komplementären oder integrativen Medizin wird. Im Folgenden soll es aber nicht um Kombinationen mit der Schulmedizin gehen, sondern nur um traditionelle Anwendungen.

Das zweite Problem ist, dass die Naturheilkunde eine Erfahrungsheilkunde ist und gerade keinen Anspruch erhebt, wissenschaftlichen Kriterien zu genügen. Damit soll nicht angedeutet werden, dass Naturheilkundler nicht an evidenzbasierter Medizin interessiert wären, im Gegenteil. Einer kanadischen Studie zufolge “gaben 71 % der Teilnehmer [naturheilkundlich arbeitende Ärzte] an, dass ein mäßiger oder großer Teil ihrer klinischen Praxis auf Erkenntnissen aus der klinischen Forschung beruht.” (Aucoin et al., Evidence-Based Practice Attitudes, Skills, and Usage Among Canadian Naturopathic Doctors: A Summary of the Evidence and Directions for the Future, 2021) Davon einmal abgesehen gibt es mittlerweile auch einige Studien über die Wirksamkeit traditioneller heilkundlicher Methoden, siehe z.B. hier in Bezug auf die Akupunktur. Die Kybernetik jedoch ist eine Wissenschaft und somit für die naturheilkundliche Behandlung zunächst per se nicht ausschlaggebend.

Das dritte Problem ist, dass nur sehr wenige naturheilkundliche Therapien neben einer Methodik auch eine klare Systematik aufweisen, also eine planmäßige, einheitliche Darstellung ihrer Methodik und die Behandlung nach bestimmten Ordnungsprinzipien. Dadurch könnte sich natürlich in traditionellen Behandlungen eine kybernetische Vorgehensweise verstecken, ohne dass den Behandlern die Übereinstimmung mit den kybernetischen Prinzipien bewusst wäre. Allerdings müssten diese Behandlungen der kybernetischen Regulation immer noch praktisch entsprechen.

Beispiel Homöopathie

Ansätze einer systematischen Vorgehensweise zeigt z.B. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie. Ihm war aufgefallen, dass homöopathische Arzneimittel, auch wenn gut gewählt, unter manchen Umständen nicht wie erwartet wirkten: 

„… daß der homöopathische Arzt bei dieser Art chronischer Übel, ja bei allen (unvenerischen) chronischen Krankheitsfällen es nicht allein mit der eben vor Augen liegenden Krankheits-Erscheinung zu thun habe, sondern, daß er es immer nur mit einem abgesonderten Theile eines tief liegenden Ur-Übels zu thun habe, dessen großer Umfang in den von Zeit zu Zeit sich hervorthuenden neuen Zufällen sich zeige.“

Samuel Hahnemann, Die chronischen Krankheiten, 1835, S. 7

Er entwickelte daraufhin die Lehre der Miasmen, laut der alle Erkrankungen eines von drei “Urübeln” zugerechnet werden müssten, da alle Krankheiten

„mit wenigen Ausnahmen, wahre Abkömmlinge einzig der vielgestaltigen Psora seyen. […] (wenn sie nicht zu den beiden venerischen Uebeln, der Syphilis und der Sycosis zu zählen […]“ seien.

Samuel Hahnemann, Die chronischen Krankheiten, 1835, S. 10

John Henry Allen, ein späterer Homöopath, bemerkte zu den Miasmen später:

„Wo … die gemischten Miasmen zugegen sind, ist es notwendig die Reihenfolge oder Ordnung ihrer Entfaltung zu verstehen. Eines ist für gewöhnlich aktiv und hält das andere im Zustand der Untätigkeit.“

John Henry Allen, Die chronischen Krankheiten, Die Miasmen, Renée von Schlick, Band 1, 1993, S. 278-279 

Besonders im letzten Zitat lässt sich die Unterscheidung von Subsystemen erkennen, wenn auch nicht auf organischer Ebene, sondern auf der funktionalen Ebene der Miasmen. Miasmen repräsentieren Symptomkomplexe, die sich dann in den einzelnen verschiedenen homöopathischen Arzneimittelbildern wieder finden. Arzneimittel werden durch den genauen Abgleich der Symptome des Patienten mit den Symptomkomplexen des konkreten Arzneimittelbildes abgeglichen, welches auch immer ein paar Symptome enthält, welches das übergeordnete Miasma repräsentiert. Im obigen Zitat wird auch von einer Ordnung der Miasmen, also übergeordneter Symptomkomplexe gesprochen. Moderne Homöopathen greifen diesen Gedanken der Ordnung auf, indem sie die Miasmen z.B. als eine Verteidigungsreaktion der Zelle sehen, die auf Reize aus der Umwelt reagiert und dabei auf drei verschiedene Arten reagieren kann: mit dem psorischen, sykotischen oder syphilitischen Miasma, wovon die Syphilinie die (selbst)zerstörerischste Form darstellt und daher bevorzugt behandelt werden sollte (Dr. Prafull Vijayakar, Die Gesetzmäßigkeiten der Miasmen, 2015, S. 43). An diesem Modell ist allerdings aus kybernetischer Hinsicht bereits problematisch, dass bei der Zelle (lokaler Ebene) angesetzt wird. Andere Homöopathen bauen auf dieser Idee der Syphilinie als zerstörerischstes Miasma auf, weisen ihr aber zusätzlich das Nervensystem als Handlungsagenten innerhalb des Organismus zu (Peter Gienow, Die miasmatischen Gesetze, 2010, S. 54):

Eine erfolgreiche Behandlung laut Gienow verlangt die Beachtung von Heilwegen, sodass man in gewisser Weise von Hierarchien sprechen kann. Wobei die Syphilinie und damit auch das Nervensystem zuerst behandelt werden müssen. Auf dem Bild oben (Peter und Gerti Gienow, Legende Miasmatisches Taschenbuch, 2011) sind die Heilwege mit Pfeilen eingezeichnet, sowie ein paar zusätzliche Zwischenmiasmen wie die Karzinogenie. Diese ist eine Mischung aus Syphilinie und Sykose und muss auch wieder in ihre zwei Bestandteile aufgeteilt werden, bevor dann die Syphilinie behandelt werden kann.

Dieser Ansatz klingt zunächst in der Theorie sehr kybernetisch. Was aber bei dieser Betrachtung fehlt, ist tatsächlich die Ganzheitlichkeit der Behandlung. Zellenergie, die Voraussetzungen für die Entwicklung eines gesunden Nervensystems, psychische Traumata, die zu psychischen Fehlsteuerungen des Organismus führen können, sollen alle mit der Homöopathie (wieder)hergestellt werden, was unserer Erfahrung nach leider nicht gelingt. Es fängt damit an, dass Zellenergie durch sogenannte “Energiemedizin” wie die Homöopathie – auch von ihren Vertretern selbst völlig unbestritten – nicht hergestellt, sondern nur bewegt werden kann. Die Homöopathie schreibt sich selbst zu Blockaden der Lebenskraft zu entfernen und nicht die mitochondriale Energieherstellung zu gewährleisten. Inwieweit diese energiebewegende Wirkung homöopathischer Arzneimittel tatsächlich belegbar ist, muss hier somit nicht weiter erörtert werden. Es reicht festzutellen, dass diese Form der Homöopathie genau wie so viele andere Heilmethoden die Nährstoffkomponente bei der Herstellung von Zellenergie therapeutisch nicht beachtet.

Ein weiteres Problem an der rein energetischen Behandlung ist, dass sich z.B. frühkindliche Reflexe unserer Erfahrung nach energetisch nicht integrieren lassen. Persistierende frühkindliche Reflexe stehen der Reifung des Nervensystems aber entgegen. Dafür braucht es Übungen. Ohne diese Übungen ist oft das Nervensystem überhaupt nicht reif genug, um mit Stressreizen überhaupt umzugehen, wozu auch Behandlungsmaßnahmen auf körperlicher und psychischer Ebene zählen. Somit kann man sagen, dass bei der Gienow Homöopathie auch die Bedürfnisse einzelnder Subsysteme des Organismus nicht in ihrer Relevanz für die kybernetische Steuerung wahrgenommen werden. Insgesamt kommt somit der Ansatz der Gienow Homöopathie der kybernetischen Idee recht nahe, scheitert aber dann spätestens an der praktischen Umsetzung.

Im Ergebnis wird also einmal mehr davon ausgegangen, dass die Optimierung der Steuerung des Systems im Sinne der Allostase durch die Anwendung der Homöopathika von alleine eintritt und dass es keiner weiteren Maßnahmen, man könnte auch Ressourcen im Sinne des offenen komplexen Systems sagen, braucht, um diese zu erreichen.

Beispiel Traditionelle Chinesische Medizin

Auch die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) erkennt im Körper funktionelle Zusammenhänge, die sie z.B. Meridiane nennt. Diese Meridiane sind wiederum Organen im funktionellen Sinn zugeordnet, die unserem heutigen Verständnis von der Anatomie und Physiologie der entsprechenden Organe aber nicht immer entsprechen. Auch in der TCM werden Beziehungen und vor allem Wechselwirkungen zwischen diesen Organsysteme benannt, wie die nachfolgende Grafik zeigt:

Rein optisch ergibt sich bereits ein Vergleich mit der Weltsicht der Funktionellen Medizin, die in den körperlichen Subsystemen ein Geflecht von gleichwertigen Organsystemen sieht. Der Unterschied ist hier, dass Beziehungen und Wechselwirkungen klar definiert sind. Auffällig ist auch hier, dass es keine Hierarchien gibt. Die Organebene ergibt einen geschlossenen Kreis, wo jede Organebene die nächste nährt, ohne dass es einen definierbaren Anfang oder ein definierbares Ende gäbe. Den Unterschied zur Betrachtungsweise der Kybernetik illustiert die unten stehende Grafik: 

Das System der TCM ist aufgrund seiner Genauigkeit durchaus dazu in der Lage in vielen Fällen tatsächlich Symptome zu lindern oder zu heilen. Das belegen mittlerweile auch Forschungsarbeiten, z.B. hier über Akupunktur. Laut eigener Aussage stellt die TCM einen Ausgleich zwischen Regionen energetischer Fülle und energetischer Leere her, wodurch sich dann das System reguliert. Die klassische Wissenschaft lässt solche Erklärungsansätze natürlich nicht gelten, weswegen die Wirkung der TCM zum Teil neurologisch, faszial oder durch Stimulation von Opiod Rezeptoren erklärt wird.

Vom Ansatz und eigenen Verständnis her bleibt die TCM aber ein Modell, welches die Homöostase wiederherstellen möchte. Durch den Ausgleich von Fülle und Leere wird im System eine Art Druckausgleich hergestellt, indem Ressourcen wie Energie (Qi) anders verteilt werden. Die Funktionalität des Systems als solche wird dabei aber weder in Frage gestellt, noch behandelt. Das System soll nicht verändert werden, indem es lernt sich in Zukunft besser zu verwalten. Es geht darum vorhandene Ressourcen besser zu verteilen. Eine Lerneerfahrung für die Zukunft ist dabei nicht intendiert. Treten Probleme erneut auf, wird erneut der Druck durch Behandlungsmaßnahmen ausgeglichen, Ressourcen werden von A nach B verschoben – bis zum nächsten Mal. Diese Sichtweise entspricht dem Gedanken der Homöostase, nicht aber der Allostase. Somit macht die Genauigkeit, mit der die TCM die Homöostase herstellen möchte sie noch nicht zu einer kybernetischen Behandlungsweise.

Es könnten an dieser Stelle natürlich auch noch andere traditionelle Heilweisen auf ihre kybernetischen Eigenschaften hin untersucht werden. Das würde natürlich den Rahmen dieses Artikels erheblich sprengen. Allerdings ist uns bislang auf dem Gebiet der klassischen Naturheilkunde noch keine Methode begegnet, die sich durch ihr Verständnis der Kybernetik hervortut. Daher wurden mit der Homöopathie und der Akupunktur bereits solche Methoden herausgegriffen, die sich wenigstens ansatzweise Gedanken um eine Systematik machen. Bei vielen naturheilkundlichen Methoden gibt es zwar ebenfalls die Idee, dass Selbstregulation durch ein Ausgleich von Fülle und Leere, bzw. Toxinbelastung (“Schlacken”) und Ressourcenmängel eintritt, aber auf die Frage wie der Körper lernen soll sich über die Zeit von selbst über eine optimale Steuerung (Allostase) zu regulieren, haben sie ebensowenig wie die Homöopathie oder die TCM theoretische oder praktische Antworten. Es wird bislang immer davon ausgegangen, dass diese optimale Steuerung entweder bereits besteht oder durch den behandelnden Eingriff von alleine entsteht.

Ganzheitlich, aber unsystematisch

Generell kann man also sagen, dass sämtliche Methoden der klassischen Naturheilkunde, ähnlich wie die Funktionelle Medizin, Verflechtungen unter den Organsystemen anerkennen, sogar voraussetzen. Von einer wirklichen Systematik kann man allerdings wohl kaum sprechen.

Genau wie bei der Funktionellen Medizin fehlt (mit Ausnahme der Gienow Homöopathie) sowohl ein Verständnis für die hierarchische Anordnung dieser Systeme und ein Verständnis für die eigentliche Relevanz eines jeden Systems in Bezug auf die Funktion des offenen komplexen System als solches:

Der klassischen Naturheilkunde fehlen dadurch oft konkrete Kenntnisse über die tatsächlichen Verbindungen im Organismus und damit Lösungen. Man weiß zwar, dass alles irgendwie mit allem verbunden ist, jedoch nicht genau wie. Aufgrund der hierarchischen Verschachtelung der Systeme miteinander u.a. ist allerdings nicht jede Verbindung für die Funktion des Systems gleich relevant. Beziehungsweise, je nachdem wo im System angesetzt werden soll, muss der passende Teil des Systems angesprochen werden, um es als Ganzes zu steuern: 

“Leider ist damit, dass man die Vernetzung eines Systems kennt, noch nicht alles gewonnen. Denn entscheidend ist nicht nur, was mit wem verbunden ist, sondern auch, wie es damit verbunden ist, also die Kenntnis der Stärke, der Art und der Richtung der Wechselwirkungen zwischen den Teilen… Es gibt Beziehungen mit linearen wie auch mit nichtlinearen Wirkungen, Beziehungen höherer Ordnung, etwa mit Schwellen- und Grenzwerten, Schwingungs- und Umkippeffekten und solche mit Zeitverzögerung, ferner komplexe Beziehungen wie verschaltete Regelkreise, in denen mal negative, mal positive Rückkopplungen dominieren.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S. 127

Dadurch wird die klassische Naturheilkunde, ähnlich wie die Funktionelle Medizin, ihren eigenen Ansprüchen meist nicht gerecht. Bei der Rückführung des Körpers in den Zustand vor der Erkrankung (Homöostase) kann die klassische Naturheilkunde unter Umständen punkten. Selbstheilung als ein Spezialfall der optimalen Selbstregulation (Allostase) tritt in der Regel durch naturheilkundliche Maßnahmen aber nicht wirklich ein. 

Das große Problem ist auch bei der klassischen Naturheilkunde die Wiederherstellung einer optimalen Energieproduktion, da sie als gegeben vorausgesetzt wird. Viele naturheilkundliche Therapien arbeiten auf der “energetischen” Ebene, wobei es um die Bewegung von Energie geht (z.B. Lebenskraft, Chi, Prana, Orgon). Doch wo keine zelluläre Energie vorhanden ist, kann auch nicht viel bewegt werden. Es wird in Fällen des Energiemangels sogar oft verkannt, dass jeder Reiz, dazu zählen eben auch Heilbehandlungen, als Stress vom Körper verarbeitet werden muss. Und dafür braucht es Energie. Energie kann von energetischen Heilmethoden nicht hergestellt, allenfalls bewegt werden. Daher kann die klassische Naturheilkunde heutzutage in vielen Fällen oft nicht mehr viel ausrichten, da viele Menschen unter nährstoffbedingten Mitochondriopathien leiden, bei der energetische Maßnahmen alleine nicht mehr viel ausrichten können. 

Entlastung statt Regulation

Indem die klassische Naturheilkunde vom Ansatz her Selbstheilungskräfte anregen möchte, kann man zwar sagen, dass ihr Anliegen ist, Regelsysteme zu nutzen und sie nicht außer Kraft zu setzen oder sonstwie aufzubrechen. Die Art wie sie dies allerdings bewerkstelligen möchte, ist aber in der Regel zum Scheitern verurteilt. Denn sie möchte oft die Homöostase mittels Entspannungs- und Ausleitungsverfahren alleine wieder herstellen, im Folgenden eine typische Beschreibung solcher naturheilkundlicher Verfahren:

“Es ist bekannt, wie sich dauerhaft hohe Anforderungen im Alltag, ob im Beruf oder im Privatleben, auf den Einzelnen auswirken können. Daher zielen Entspannungsverfahren vor allem darauf ab, die Regeneration des Menschen zu fördern. Auch in der Naturheil- kunde steht dieser Bereich im Vordergrund: dem Menschen durch Anwendungen oder Mittel Erholungsphasen zu ermöglichen, damit er gesund bleibt oder wird (die „Selbst- heilungskräfte anregen“).

Es wird also mit unterschiedlichsten Methoden gearbeitet (z. B. mit Ausleitungsverfahren), um die Wirkung von Stress auf den Organismus zu reduzieren und das Milieu (z.B. den Säure-Basen-Haushalt) so zu regulieren, dass es zur Gesundung des Kranken führt.”

Dieter Heesch/Andrea Oberhofer, Sympathikus-Therapie, 2023, S. 21

Die Idee ist nach dieser Herangehensweise Folgende: der Körper weiß eigentlich wie Gesundheit geht und ist nur im Moment ein wenig überlastet. Durch Ausleitung von Toxinen und gegebenenfalls auch durch Zufügung von naturheilkundlichen Mitteln soll der Organismus dann automatisch (wieder) in eine Balance kommen. Aus Sicht des offenen komplexen Systems könnte dies aber ausschließlich dann so sein, wenn der Körper tatsächlich grundsätzlich wüßte wie es ginge und nur momentan überlastet wäre. Aber wissen wie es geht tut er häufig leider nicht.

Während die Zufügung von Energie, Ausleitungsverfahren, Entspannungsverfahren usw. alle ihren Beitrag zur Homöostase leisten können, ist dadurch noch immer nicht gewährleistet, dass die innere Organisation des Körpers, seine Infrastruktur, dazu in der Lage ist Gesundheit wieder herzustellen. Wie bereits im vorherigen Artikel hier ausführlich erörtert worden ist, fehlt dem Körper sehr häufig die Ausrichtung auf einen optimalen Sollwert. Mit Glück kann der Organismus durch Ausleitungstherapien und naturheilkundliche Methoden zwar in den Zustand vor der Erkrankung zurückkehren (Homöostase), doch dadurch wäre Gesundheit noch nicht zwangsläufig erreicht, da der Zustand vor der Erkrankung bereits in den meisten Fällen nicht dem Optimum entsprochen hat. Dafür müsste der Sollwert des Körpers auf die Allostase gerichtet sein, einem optimalen Sollwert, der dem Organismus erlaubt sich selbst konstant an die Umwelt anzupassen und so künftigen Herausforderungen optimal gewachsen zu sein.

An dieser Stelle zeigt sich, dass die klassische Naturheilkunde Entlastung mit einer Therapie im transformativen Sinne verwechselt. Entlastung bewirkt lediglich, dass das, was schon da ist, besser funktioniert. Therapie sollte aber eigentlich bewirken, dass neue Strukturen und Fähigkeiten entstehen, die vorher noch nicht da waren. Die Hoffnung, dass sich durch Entlastung automatisch therapeutische Effekte ergeben, erfüllt sich, wie bereits beschreiben, nur selten. Damit wird aber die Heilung zum Zufall oder Glücksfall, das Gegenteil von einer systematischen Vorgehensweise, die Verläufe korrekt erklären und vorhersehen kann.

Versuch-und-Irrtum-Prinzip statt Systematik

Die klassische Naturheilkunde erkennt, ebenso wie die Funktionelle Medizin, den Charakter des offenen komplexen Systems teilweise, kann ihn dadurch teilweise auch beschreiben. Sie erkennt Zusammenhänge manchmal auch im Nachhinein, nämlich dann, wenn sich z.B. ein kausaler Zusammenhang zwischen Leberentlastung und einer Verbesserung des Hautbildes zeigt. Doch steuern kann man ein System nur, wenn Vorgänge nicht nur im Nachhinein beschrieben, sondern vorausgesehen werden können:

“Beschreibung ist Empirie, und sie ist sehr häufig, banal, vielfältig und reichhaltig. Die Vorhersage erfordert ein Gesetz und eine Theorie, die auf diesem Gesetz beruht.”

Adrian Bejan, Freedom and Evolution, 2020, S. 133

Um den Organismus in die Allostasefähig zu begleiten, müsste die klassische Naturheilkunde neben der fälschlichen Grundannahme, dass zellulärere Energie vorausgesetzt werden könne, vor allem erkennen, dass die Verflechtungen der Organsysteme untereinander hierarchisch verschaltet sind:

“Hierarchie entsteht, weil sie für jede Komponente des globalen Flusssystems gut ist. Die Großen brauchen die Kleinen genauso, wie die Kleinen die Großen brauchen. Der Einzelne stützt die Menge – und umgekehrt.”

Adrian Bejan, Design in Nature, 2012, S. 165

Durch die Unkenntnis der eigentlichen Stellschrauben und Regeln des Organismus als offenes komplexes System zeigt sich demnach langfristig auch, dass die klassische Naturheilkunde zwar regulieren möchte, in vielerlei Hinsicht aber genauso symptomatisch wie die Schulmedizin oder die Funktionelle Medizin an Heilung herangeht. Statt künstliches Aspirin mag es zwar die natürliche Weidenrinde zur Schmerzstillung geben. Doch von der Anwendung natürlicher Arzneimittel kann nicht automatisch auf die Kenntnis der Natur des Systems als solches geschlossen werden. Der Einsatz natürlicher Heilmittel alleine macht eine Methode nicht im kybernetischen Sinn ganzheitlich.

Fazit:

Die klassische Naturheilkunde hat aus unserer Sicht viele interessante Ansätze. Aber ein systematischer Ansatz im Sinne der allostatischen, also optimalen Selbstregulation, ist sie nicht. Sie kann trotz dessen, genauso wie auch jede andere Heilmethode durchaus Erfolge vorweisen. Vor allem dann, wenn der Körper in Bezug auf die betreffende Erkrankung eigentlich weiß wie Selbstheilung geht und nur durch Überlastung akut seine Arbeit nicht mehr machen kann. Aus unserer Sicht arbeitet die klassische Naturheilkunde bei chronischen Erkrankungen mittels Entlastung durchaus auch mit systemkonformeren Ansätzen als die Schulmedizin, wodurch sie weniger Nebenwirkungen als diese produziert. Durch die fehlende Systematik sind Ergebnisse aber eher zufällig als planbar.

Allerdings könne sich auch in der klassischen Naturheilkunde durchaus Nebenwirkungen zeigen, die vor allem damit zu tun haben, dass die Regeln des Systems nicht erkannt werden. Ein Beispiel dafür wäre das traditionelle Fasten, welches den Organismus in den Hungerstoffwechsel sürzt. Dadurch kann zwar manch krankhaftes Gewebe abgebaut werden, auch Gewicht kann verloren werden. Doch oft stellt sich nach solchen Kuren der Jo-Jo Effekt ein, nicht anders als bei einer Radikaldiät, weil der Körper fortan aus seinem Energiesparmodus (Überlebensmodus) nicht mehr herauskommt. In so einem Fall aktiviert der Körper unserer Beobachtung nach dauerhaft das Generelle Adaptationssyndrom (was wir hier ausführlich besprochen haben), welches z.B. die Leistung der Schilddrüse drosselt. Indem der Organismus an einer Stelle repariert, an anderer Stelle etwas für die Funktion und Struktur des Systems Wesentliches opfert, zeigt sich, dass gegen die Regeln des offenen komplexen Systems verstoßen worden ist. In so einem Fall kann das Ergebnis noch nicht einmal als homöostatisch betrachtet werden. Denn der Körper erlangt den Zustand vor der Erkrankung ja gerade nicht wieder. Das Problem ist an dieser Stelle, dass der Zusammenhang zwischen dem Eingriff durch das Fasten und die nachfolgende Verschiebung des hormonellen Gleichgewichsts und des darunter liegenden mitochondrialen Energiemangels nicht gesehen werden.

Schlussfolgerung

In diesem Artikel wurde untersucht, ob bekannte Heilmethoden wie die Schulmedizin, das Biohacking, die Funktionelle Medizin oder die klassische Naturheilkunde ihre Behandlungen auf kybernetische Prinzipien stützen. Dies war bei keiner der bislang besprochenen Heilmodalitäten der Fall.

Es sollte in diesem Artikel nicht um die Nützlichkeit dieser Methoden als solches gehen. Da die Nützlichkeit sich immer aus dem Ziel ergibt, welches mit der Behandlung erreicht werden soll.

Soll es um das unmittelbare Überleben des Organismus gehen, ist die Schulmedizin sicherlich die richtige Behandlungsmethode. Nach einem Unfall, der lebensrettende Operationen benötigt, stellt sich die Frage nach der optimalen Steuerung des Organismus im Sinne der Allostase zunächst nicht. Der Betroffene kann froh sein, wenn der Organismus nach dem Unfall wieder seinen Zustand vor dem Unfall erreichen kann (Homöostase). Das Problem ist aber, dass diese Betonung auf das unmittelbare Überleben häufig die einzige Perspektive der Schulmedizin ist. Daher werden Symptome oft so lange als Befindlichkeitsstörung von ihr ignoriert, bis organische Störungen vorliegen und drastische Maßnahmen das Leben des Patienten retten oder zumindest schwere Gesundheitsschäden abwehren müssen. Es ging in diesem Artikel darum zu demonstrieren, dass die langfristige optimale Steuerung des Organismus als offenes komplexes System durch die schulmedizinische Behandlung weder erreicht werden kann, noch soll.

Es ist sehr gut möglich, dass auch intensivmedizinische oder notmäßige Interventionen noch um einiges effektiver werden könnten, wenn die kybernetische Perspektive auch von der Schulmedizin verstärkt beachtet würde. Auch wenn die kybernetische Perspektive in vielen Fällen zugunsten des unmittelbaren Überlebens nicht angewendet werden könnte. Es sollte unserer Meinung nach darum gehen das Verständnis dafür, wann welche Behandlung für das langfristige Wohl des Patienten am sinnvollsten sind, zu stärken. Beim unmittelbaren Überleben kann selbst die Homöostase im Sinne des Zustandes vor dem Ereignis unwichtig sein. Die meisten Menschen leben lieber überhaupt weiter, als sich über eine hässliche Narbe zu beschweren, die nach einer schweren Verletzung durch eine lebensrettende Operation entstanden ist. Wobei jeder moralisch integre Schulmediziner sich nach besten Kräften darum bemühen wird den Patienten so gut wie möglich wieder herzustellen.

Da aber das Weltbild der Schulmedizin oft so sehr von dem Überleben geprägt ist, werden Nebenwirkungen als “normal” und in der “Natur der Sache” in Kauf genommen, was auch zutrifft, wenn Regelsysteme außer Kraft gesetzt werden. Nach kybernetischen Behandlungsalternativen wird dadurch aber leider auch in Fällen, wo es nicht um das unmittelbare Überleben geht, nicht gesucht. Diese Herangehensweise ist sicherlich auch dem Zeitgeist geschuldet, dieser betrifft leider die gesamte Wissenschaft:

“Im besten Fall umfasst die Wissenschaft alles – sie versucht, eine rationale Grundlage für alles zu schaffen, was ist. Vor allem in den letzten zweihundert Jahren haben ihre Vertreter jedoch dazu geneigt, das Universum in immer kleinere Teile zu zerlegen, bis hin zum Infinitesimalbereich. Die einen studieren Felsen, die anderen Vögel, die einen den Weltraum, die anderen den Menschen. Vielleicht haben Sie dasselbe Phänomen schon bemerkt, wenn Sie sich in ärztliche Behandlung begeben – ein Arzt ist auf Nieren spezialisiert, ein anderer auf den Dickdarm, ein anderer auf das Herz; keiner kann Ihre gesamte Versorgung übernehmen. Weil sich die Wissenschaftler auf immer kleinere Fragen und immer kleinere Dimensionen konzentriert haben, haben die meisten das große Ganze nicht gesehen.”

Adrian Bejan, Design in Nature, 2012, S. 22

Neben der Nützlichkeit spielt bei der Wahl der Behandlung auch die Motivation des Patienten zur Eigenverantwortung eine sehr große Rolle. Wer seinen Organismus im Sinne der Allostase optimieren möchte, muss sehr viel Zeit, Mühe und auch Geld in seine Behandlung investieren. Es ist eine Fähigkeit, die man sich hart erarbeiten muss. Im Grunde muss das eigene Nervensystem einmal komplett umprogrammiert werden. Und zwar von innen heraus. Vor allem die Neigung des Organismus im Zustand der allostatischen Überladung Typ 2 zu verweilen, muss korrigiert werden. Denn im Zustand der allostatischen Überladung Typ 2 hat sich der Betroffene von der Realität abgekoppelt, wodurch der Organismus im Überlebensmodus verweilt, obwohl aus Sicht der Ressourcenversorung dazu keine Notwendigkeit besteht (die allostatische Überladung Typ 2 wurde ausführlich im vorherigen Artikel beschrieben). Dazu müssen alle Irrtümer über sich und die Welt gnadenlos aufgedeckt werden. Das ist unbequem. Und muss dann auch zu Konsequenzen im eigenen Leben führen: von dem eigenen Life-Style, der Partner- oder Berufswahl muss vieles angepasst werden. Nicht sehr viele Menschen sind zu dieser Radikalität und Konsequenz bereit. Zu bequem ist dann doch die eigene Opferrolle, zu gut schmeckt das Weinchen und zu unbequem ist das Schwimmen gegen den Strom. Eine Behandlung im klassischen Sinne wirkt auf solche Menschen verständlicherweise attraktiver, da dort die Verantwortung für das eigene System beim Behandler abgegeben wird:

“Wer Hilfe sucht und sich in Obhut begibt, unterwirft sich zumindest für einen bestimmten Zeitraum, akzeptiert er doch Weisungen und verzichtet auf Autonomie. Es liegt nicht nur an den Gesundheitsrisiken jeder Behandlung oder daran, dass Behandler Krankheiten verkennen und eine falsche Therapie verordnen. Nein, es liegt an der Preisgabe der Selbstbestimmung. Wer sich be-handeln lässt, handelt nicht mehr.”

Gerd Reuther, Heilung Nebensache, 2022, S.330 

Die Anwendung kybernetischer Regeln im eigenen Leben ist keine Therapie, sondern eine Entscheidung für die Bedürfnisse der menschlichen Spezies. In einer Therapie nach den kybernetischen Regeln bekommt der Patient lediglich Ressourcen an die Hand, um diese Regeln zu verstehen und in seinem Leben anwenden zu können. Kybernetische Regeln müssen jeden Tag, bei jeder Entscheidung, das ganze Leben lang angewendet werden. Nicht nur zur Kur, wenn es hier und da zwickt und zwackt. Eine Therapie nach den Regeln der biologischen Heilkybernetik hat insofern nur beschränkt mit einer Behandlung im klassischen Sinne zu tun. Denn Behandlung kann immer nur bedingt zur Transformation des eigenen Systems beitragen. Transformation ist ein Prozess, der nur durch eigene Leistung erbracht werden kann. Denn es geht um Entwicklung, wie unten noch näher beschrieben werden soll. Im Gegensatz zum Denken kann Entwicklung nicht ausgelagert werden. Ihre Ergebnisse können auch durch die beste Steuerung von außen nicht erreicht werden. Entwicklung ist im Wesentlichen die Fähigkeit zur optimalen Selbstregulation. Wer kybernetisch heilen möchte, muss vollständig verstehen, dass das System unabdingbare eigenen Regeln hat. Die einzige Wahl, die wir diesbezüglich als Menschen haben ist diese Regeln zu befolgen und zu verstehen oder mit den negativen Konsequenzen einer unkybernetischen Lebensweise zu leben. Verändern können wir die Regeln nicht. In einer kybernetisch informierten Therapie entscheidet dann nicht mehr der Patient was der Körper braucht oder nicht braucht, sondern das System. Es geht dann nicht mehr darum, ob einem eine Therapie “zusagt”, sondern darum, sie bei Notwendigkeit umzusetzen. Und vieles, was für die Optimierung des eigenen Systems im Sinne der Allostase gemacht werden muss, ist erst einmal unbequem.

Wer sich der Umstrukturierung seines Systems nicht voll und ganz widmen möchte, muss also Kompromisse machen und Abstriche in Kauf nehmen, darf dann aber nur mit einer Symptomheilung rechnen. Dies kann ohne oder mit weniger Nebenwirkungen vonstatten gehen, als in der Schulmedizin üblich. Wer also im Grunde im eigenen Organismus nur einen Druckausgleich im Sinne der Homöostase möchte, damit Symptome verschwinden, der ist mit der Funktionellen Medizin oder der klassischen Naturheilkunde gut beraten. Dort erhält man unter Umständen eine umfassendere Behandlung als in der Schulmedizin üblich. Durch die Entlastung kann sich natürlich insgesamt auch eine gewisse systemische Wirkung entfalten. Eine ganzheitliche Behandlung ist das allerdings nicht, weil das System in seiner Gänze weder erfasst noch behandelt wird.

Wer nach den Regeln der biologischen Heilkybernetik heilen möchte, kann unserer Erfahrung nach für sich viele Paradigmen in Bezug auf die Heilfähigkeit des eigenen Organismus sprengen. Wer bereit ist sich nicht mehr selbst zu betrügen, könnte nicht nur tiefe Heilung erfahren, sondern auch mehr Wahrheit, Freiheit und Befriedigung erleben. Wie ein solcher Weg therapeutisch begleitet werden müsste, erläutern wir im nächsten Artikel.

Die Integrale Medizin wird von der biologischen Heilkybernetik informiert

Im Gegensatz zu bislang bekannten Heilansätzen setzt die Integrale Medizin am “Betriebssystem” an, nicht der “Software”:

Wir werden im Folgenden darlegen welchen Kriterien eine wirklich auf der Ebene des offenen komplexen Systems arbeitende Methode entsprechen muss.

Neben den drei Schlüsselanforderungen, dass Heilmethoden, die das offene komplexe System beachten, Systemteile gemeinsam betrachten, Regelkreise beachten, und Langzeitfolgen im Blick behalten müssen, werden im Folgenden konkrete Instrumentarien einer der biologischen Heilkybernetik entsprechenden Behandlungsmethode besprochen.

Der therapeutische Weg: die wichtigsten Faktoren bei der Herstellung der Allostasefähigkeit

Diese Instrumentarien lassen sich aus Frederic Festers methodischer Kritik an linearen Denkansätzen herausarbeiten:

  1. Unterschiedliche Systemebenen müssen getrennt voneinander betrachtet und in ihrem hierarchischen Verhältnis erkannt werden
  2. Interdependenzen, also gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse der Systemebenen untereinander müssen beachtet werden
  3. Für die Funktion des Systems wesentliche Bestandteile müssen erfasst werden. Wesentlich bedeutet immer: die Lebensfähigkeit des Systems erhaltend oder steigernd
  4. “Weiche” Fakten, die eher eine qualitative Aussage über das System erlauben, müssen mit einbezogen werden, z.B. die Lebensqualität
  5. Pufferkapazitäten und Freiräume in der Planung, bzw. in der Therapie machen ein System flexibel, es kann reagieren
  6. Um lebensfähig zu bleiben, entwickeln sich Systeme nicht linear und durch bloßes Wachstum. Sie transformieren sich durch metamorphotische Neustrukturierung nach jedem Wachstumsschub, was auch bei der Planung, Unterstützung und Heilung von Systemen beachtet werden muss.

Angelehnt an Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S. 53 ff.

1. Betrachtung unterschiedlicher Systemebenen, hierarchische Einordnung von Systemebenen

Wie bereits hier besprochen, werden die Organsysteme des menschlichen Organismus gemäß ihrer Steuerkapazität in Bezug auf den Organismus als Ganzes hierarchisch angeordnet. Diese Ordnung kann dem Bild unten entnommen werden:

2.Beachtung von Interdependenzen von Systemebenen

Interdependenzen von Systemen ergeben sich aus der Tatsache, dass es sich bei der Organhierarchie um eine verschachtelte Hierarchie handelt. Das bedeutet, dass die Spitze der Hierarchie zwar am Ende das Sagen hat, gleichzeitig aber auch aus Komponenten der Basis besteht.

Während das Nervensystem die Spitze der Befehlshierarchie darstellt, muss gewährleistet sein, dass jede Zelle im Organismus als die kleinste autonome Steuerebene des Organismus in ihren Mitochondrien ausreichend Energie für den gesamten Organismus herstellt.

Das Bild der Organhierarchie wurde aus der Perspektive der Wichtigkeit für die Funktion des Organismus dargestellt. Aus der anatomischen Perspektive hätte das Energiesystem mit den Mitochondrien, die sich in den Zellen befinden, an der Basis der Hierarchie stehen müssen.

Jedenfalls ist das Nervensystem im Organismus für die Koordinierung aller Vorgänge zuständig, während das Energiesystem ausschlaggebend dafür ist, ob diese Ordnung unter optimalen Bedingungen mit vollem Energiepotential oder unter Energierationierung stattfindet.

Die Verbindung zwischen Nervensystem und den Mitochondrien stellt im gesamten Organismus die absolut wichtigste Interdepenz dar, wenn man berücksichtigt, dass der Organismus wie jedes offene komplexes System zum Zweck hat “die Erkennung, Steuerung und selbsttätige Regelung ineinandergreifender, venetzter Abläufe bei minimalem Energieaufwand” zu betreiben (Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S.124).

3 Erfassung wesentlicher Systembestandteile

Neben dem Nerven- und dem Energiesystem sind das Hormon- und Immunsystem neben den inneren Organen wie Herz, Leber und Nieren wesentlich für die optimale Funktion des Organismus.

Das Ausmaß ihrer Wesentlichkeit ergibt sich ebenfalls aus der Organhierarchie. Das Hormon- und Immunsystem sind wesentlicher als innere Organe, weil sie unmittelbar auf andere Organsysteme steuernd einwirken, während sich die Tätigkeit anderer Organe wie Magen, Leber, Niere, Darm etc. auf eine mittelbare Beeinflussung anderer Organsysteme beschränkt. Die Steuerung des gesamten Körpers bezwecken sie nicht.

Es hat sich herausgestellt, dass bei chronischern Erkrankungen vor allem die Sollwerte der Steuerorgane in der Organhierarchie im Sinne einer Führungsgröße beeinflusst werden müssen:

Die Führungsgröße lässt sich dabei als ein Obermaßstab für hierarchisch untergeordnete Regelkreise begreifen:

“Nun richtet sich aber auch der Regler selbst – sei es, daß wir ihn vorher einstellen, sei es, daß er anderen Systemen angeschlossen ist –außerdem noch nach einer Führungsgröße, die über ihm steht und den Sollwert für die Regelgröße vorgibt. Der Sollwert mag seinerseits veränderlich sein, weil er zum Beispiel selbst wieder die Regelgröße eines anderen Regelkreises ist.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, S. 126

Das Nervensystem stellt also die höchste Führungsgröße dar, während Hormon- und Immunsystem nachgeordnete Führungsgrößen für die restlichen Organe darstellen.

Die sekundären Führorgane (Hormon- und Immunsystem) sowie die restlichen Organe, also diejenigen, die geführt werden, sollten bei der Behandlung aber dennoch nicht “dazwischenfunken”, weil sie ihren Aufgaben nicht nachkommen können. Diese Organe werden solange durch Entlastungsmaßnahmen in der Behandlung von außen reguliert, bis der Organismus diese Organe über eigene adäquate Führungsgrößen optimal steuern kann.

4. Berücksichtigung qualitativer Aussagen

Ob ein offenes komplexes System optimal funktioniert, kann nicht nur anhand harter Fakten beurteilt werden. Dies gilt natürlich auch für den menschlichen Organismus.

Insofern müssen die Lebensqualität des Patienten und seine Motivation u.a. mit berücksichtigt werden. Anders als bei der Schulmedizin, werden z.B. Regelsymptome als Störgrößen des Systems berücksichtigt und nicht als Befindlichkeitsstörung gesunder Menschen abgetan. Der Psyche und dem Allgemeinzustand (Verdauung, Schlaf usw.) werden große Bedeutung bei der Beurteilung des Verlaufs beigemessen. Tatsächlich zeigt sich ein positiver Heilungsverlauf in der Regel zuerst am Allgemeinzustand. Erst dann verschwinden spezifische Symptome.

5. Schaffung/Berücksichtigung von Pufferkapazitäten

Heilung benötigt Ressourcen. Daher kann kein Organismus in der Tiefe heilen oder sich entwickeln, wenn es am Limit seiner Kapazität operiert. Am Beginn einer Veränderung im Organismus müssen also meist erst Ressourcen mobilisiert werden, damit Veränderungen stattfinden können. Ein wichtiger Aspekt dieser Mobilisierung ist die Unterstützung des Körpers beim Abtransport von angefallenem “Müll” auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene. Diese Unterstützung findet therapeutisch durch Entlastungsmaßnahmen statt.

Es handelt sich dabei um Maßnahmen, welche die Organe von außen bei Aufgaben unterstützen, die der Körper eigentlich von alleine hinbekommen sollte.

Entlastungsmaßnahmen kommen also immer dann zum Tragen, wenn der Körper überfordert ist. Die Entlastungsmaßnahme ist dabei im Sinne der integralen Medizin keine eigentliche Therapiemaßnahme. Denn sie kann nur selten alleine wirklich eine Transformation herbeiführen, wovon leider die klassische Naturheilkunde ausgeht. Sie setzt die Entlastungstherapie mit der Regulationstherapie gleich. Entlastungsmaßnahmen alleine können nur eine Regulation herbeiführen, wenn das betroffene System grundsätzlich optimal funktionieren kann. Es muss also vollständig zur Allostase (optimale Selbstregulation) fähig, und lediglich momentan aufgrund außergewöhnlicher Umstände belastet sein. Bei einem zur Allostase fähigen System beschleunigen Entlastungsmaßnahmen die Heilung/weitere Entwicklung eher, als dass sie sie bedingen. In so einem Fall könnte das System nach und nach auch alleine mit der Belastung fertig werden.

Ein System, welches zur Allostase nicht fähig ist, ist hingegen grundsätzlich auf Regulation von außen angewiesen. Es schafft bereits die täglichen Aufgaben nicht besonders gut. Es kann daher mit außergewöhnlichen Belastungen schwer umgehen, wie in etwa mit einer verstärkten Entgiftung. Insofern sind Entlastungsmaßnahmen manchmal bereits für die tägliche homöostatische Regulation und erst Recht für eine tiefgreifende Veränderung ausschlaggebend, bis das System entwickelt genug ist, sich auch unter Belastung selbst zu helfen (Selbstregulation durch Allostasefähigkeit).

Die Entlastungsmaßnahmen erweitern sozusagen von außen die Verarbeitungskapazität des Betroffenen. Entlastungsmaßnahmen erhöhen also die Funktion des Körpers, ohne neue Strukturen zu ermöglichen. Damit sind Entlastungsmaßnahmen in gewisser Weise mit dem Bio Hacking vergleichbar. Im Unterschied zum Biohacking, welches ohne Sinn und Verstand Funktionen steigert, machen wir die Entlastungstherapie im Einklang mit den natürlichen Rhythmen des Körpers. Wir nennen dies also im Gegensatz zum Biohacking Biosyncing. Die von uns entwickelte Nebennierenkur ist unter anderem eine Entlastungstherapie, weil sie z.B. die natürliche Kortisolkurve des Körpers nachstellt.

6. Systemkonforme Entwicklung

Eine Therapie, die wirklich die optimale langfristige Leistungsfähigkeit des Organismus bezweckt, muss schon bei einer geeigneten Zielsetzung ansetzen.

Bei einer linearen Denkweise richtet sich die Zielsetzung auf Zustände, z.B. Gesundheit. Lösungen werden dann in der Umwelt gesucht. Es werden Prognosen über das gemacht, was alles aus der Umwelt auf den Patienten einwirken könnte, z.B. das Alter oder bestimmte Toxine. Diese Ansatzweise ist nicht ganz unwichtig, wenn es darum geht das System zu entlasten. Dabei wird aber erstens verkannt, dass Umweltfaktoren nur bis zu einem bestimmten Punkt berechenbar sind. Zweitens wird ein viel wichtiger Faktor außer Acht gelassen, nämlich die Überprüfung der Fähigkeiten die der Organismus hat, um auf Umweltreize zu reagieren:

“Bei einer systematischen Sichtweise dagegen steigt man aus dem System heraus, schaut von außen nach innen und untersucht vor allem einmal das eigene System und dessen Verhalten. Dabei stellt man ganz andere Fragen: Wo sind die kritischen, wo die puffernden Bereiche, mit welchen Hebeln läßt sich das System steuern, mit welchen nicht, wie ist seine Flexibilität, seine Selbstregulation, seine Innovationskraft, wo liegen Symbiosemöglichkeiten, wo drohen Umkippeffekte usw. … Die Prognosen richten sich endlich nicht mehr spekulativ nach außen – auf das Eintreten von erhofften oder befürchteten Ergebnissen (auf das also, was für ein offenes komplexes System ohnehin nicht vorhersagbar ist) –,sondern nach innen auf das Verhaltensmuster des betrachteten Systems selbst: Wie reagiert es bei entsprechenden Ereignissen, wie robust und wie flexibel ist es, wie läßt sich sein Verhalten verbessern? Daraus ergibt sich dann eine systematische, nachhaltige Strategie, die nicht ausgedacht wirkt, sondern aus dem System heraus gefunden wurde. Weder Dogmen noch Parteiprogramme, sondern das System selbst gibt sie vor.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, S. 101-102

Biohacker z.B. sind ein gutes Beispiel für die Tendenz den Fokus auf die Umwelt statt auf das System selbst zu richten. Es werden zwar sehr viele Messwerte über Reaktionen auf die Umwelt erhoben, um den Erwerb tatsächlicher Fähigkeiten mit Umweltreizen umzugehen, geht es jedoch nicht. Aber auch die Schulmedizin, die Funktionelle Medizin oder die klassische Naturheilkunde haben noch nicht verstanden, dass Fähigkeiten ausschlaggebend dafür sind, dass ein Organismus sich selbst regulieren kann. Denn die Selbstregulation ist kein magischer Akt, der dem Organismus irgendwie passiert. Selbstregulation will erarbeitet werden. Insofern hat Selbstregulation viel mit Lernen zu tun.

Dabei muss man sich natürlich die Frage stellen, was der Organismus als offenes komplexes System lernen sollte. Wobei wir bei einer systemkonformen Zielsetzung einer jeden echten Regulationstherapie angekommen sind, nämlich die “Erkennung, Steuerung und selbsttätige Regelung ineinandergreifender, vernetzter Abläufe bei minimalem Energieaufwand.” (Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, 2001, S.124, Kennzeichnung in Fett von der Autorin)

Gesundheit ist also “nur” ein positiver und folgerichtiger Nebeneffekt eines sich optimal selbt regulierenden Organismus (Allostasefähigkeit). Optimal heißt, dass Ressourcen maximiert werden. Der Organismus wendet nur so wenig Energie wie möglich, dennoch so viel Energie wie nötig dafür auf, sich fortwährend und ohne die Opferung von Strukturen oder Funktionen an die Umwelt anzupassen.

Symptome und Erkrankungen sind damit die natürliche und unasweichliche Folge eines sich nicht optimal selbst regulierenden Organismus. Die wirklichen Hauptursachen chronischer Erkrankungen lassen sich aus der Perspektive einer mangelhaften Allostasefähigkeit wie folgt grob zusammen fassen:

Bei Störungen der Allostasefähigkeit kommt es zu zwei unterschiedlichen Hauptproblemen: Bei der allostatischen Überladung Typ 1 konserviert der Körper aufgrund eines Energiemangels Energie. Bei der allostatischen Überladung Typ 2 geht der Organismus fälschlicherweise von einem Energiemangel aus, versetzt sich aber dennoch durch Stressmuster in einen “Stand-by” Modus, der kurzfristig zu einer Funktionseinschränkung des Organismus und langfristig zur Strukturschädigung führt. Somit handelt es sich bei der allostatischen Überladung Typ 2 um ein neurologisch-psychologisches Problem, indem der Organismus sich von der Realität entkoppelt. Hinzu kommen über die Zeit aber auch Fehlregulationen des Organismus, die durch Unfälle oder medizinische Eingriffe verursacht worden sind, z.B. (anhaltende) Nebenwirkungen von Medikamenten oder fehlende Organe. Allerdings zeigt unsere Erfahrung, dass in der Regel Störungen der Allostase ausschlaggebend sind. Denn auch Unfälle und medizinische Nebenwirkungen können besser wieder heilen, wenn der Organismus  zur Allostase fähig ist (schwierig wird es allerdings, wenn systemrelevante Strukturen wie Organe usw. strukturell geschädigt sind).

Das Ziel: Die Erlangung einer Fähigkeit, nicht eines Zustands

Nicht umsonst wird also gesagt, dass der Organismus als offenes komplexes System zur Allostase fähig sein muss. Damit ist wortwörtlich gemeint, dass der Organismus bestimmte Fertigkeiten haben muss, um sich selbst im Sinne der Allostase zu regulieren. Ein paar Fähigkeiten sind uns Menschen im Sinne von Reflexen angeboren, nämlich grundlegende physische, emotionale und mentale Mechanismen des Überlebens. Dazu gehört die Fähigkeit des Stoffwechsels sich bei Energieknappheit auf Energiekonservierung umzustellen (Cell Danger Response, Generelles Adaptationsprinzip, Glykolyse statt aerobe ATP Gewinnung usw.), aber auch die neurologische Starre-, Kampf- oder Flucht-Reaktion. Auch neurologische oder psychologische Verteidigungsreaktionen sind ebenfalls Strategien der Energiekonservierung. Sie dienen also zunächst dem körperlichen, nicht dem psychischen Überleben. Zu diesen Strategien gehört auch, nicht für das unmittelbare Überleben notwendige Funktionen und Strukturen zugunsten der für das Überleben allernotwendigsten Organe zu opfern. Funktionen werden abgestellt und Strukturen abgebaut, indem der Körper nicht unmittelbar für das Überleben benötigtes Gewebe zwecks Energiegewinnung durch Selbstverdauung abbaut (Katabolismus). Diese durch Überlebensreflexe geprägte Steuerung des Organismus ist die Fähigkeit zur Homöostase. Sie entspricht der menschlichen “Einstellung ab Werk”.

Reflexhafte Reaktionen, die ausschließlich darauf gerichtet sind den Körper vor Energieverlusten zu verteidigen, sind allerdings nicht genug, um den Organismus in die Lage zu versetzen sich bestmöglich in Situationen, wo das Überleben nicht unmittelbar bedroht ist, an die Umwelt anzupassen. Ein Organismus wird ganz andere Entscheidungen treffen müssen, wenn es um Nachhaltigkeit und den optimalen Erhalt des Systems als Ganzes geht. Der Organismus muss vor allem lernen, dass die Opferung von Strukturen und Funktionen, die nicht unmittelbar für das Überleben wichtig sind, langfristig zum Kollaps führen, also Krankheit und letztendlich den Tod herbeiführen. Die Allostasefähigkeit erlaubt dem Organismus diesen Übergang vom chronischen Überlebensmodus zum Lebensmodus. Der Überlebensmodus wird nach diesem Upgrade nur noch eingeschaltet, wenn die Umstände es wirklich erfordern.

Sowohl Homöostase und Allostase wirken im menschlichen Organismus als Führungsgrößen (oberster Maßstab für alle Subsysteme), da sie an der Spitze aller Regelsysteme wirken und somit alle Regelsysteme koordinieren.

Die große Aufgabe des menschlichen Organismus ist also von der Homöostasefähigkeit zur Allostasefähigkeit zu gelangen. Dies geschieht dadurch, dass der menschliche Organismus Fertigkeiten erlangt, die ihn immer mehr dazu in die Lage versetzen, langfristig und optimal den Fortbestand des gesamten Systems zu sichern und nicht bloß zu überleben.

Fertigkeiten entstehen aber nicht aus dem Nichts. Sie benötigen für ihre Entstehung zunächst einmal Ressourcen. Das ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass der Organismus als offenes komplexes System Energie nur verwerten und nicht herstellen kann. Wenn der Körper also in seinen Mitochondrien ATP herstellt, braucht er von außerhalb des Systems Energie in Form von Nahrung, aber auch Wasser und Atemluft. Durch äußere Ressourcen kann der Körper dann Gewebe aufbauen und dieses zu Strukturen organisieren, die entsprechende Funktionen ausführen können. Energieverwertung ist somit die basalste Fähigkeit des Körpers ohne die er keinen Tag überleben kann. Daher ist das offene komplexe System rein biologisch zunächst auch nichts anderes als ein optimales Energieverwertungs- und Verwaltungssystem. Wirklich optimal, effektiv und nachhaltig wird dieses System aber erst, wenn ihm zusätzliche Fähigkeiten zur Verfügung stehen, wie z.B. die Fähigkeit in der Zukunft liegende Gefahren für den Organismus vorweg zu nehmen. Hier kommt die vom Nervensystem gesteuerte Psyche mit ihren emotionalen und mentalen Fähigkeiten ins Spiel. Und auch die Psyche existiert nicht aus sich selbst heraus. Sie ist ebenso auf Ressourcen von außen angewiesen, die sie anschließend zu Fähigkeiten verwerten kann:

Während die Energie vor allem für den Aufbau von Gewebe, also Strukturen verwendet wird, sind emotionale und mentale Ressourcen für den Ausbau kybernetischer Fähigkeiten wichtig, die Strukturen und Funktionen miteinander koordinieren. Aus diesen drei Grundfunktionen von Körper, Geist und Seele können sich im Laufe der Zeit auch sexuelle und spirituelle Fähigkeiten ergeben, die den Zweck des offenen komplexen Systems über die Biologie hinaus in Bezug auf die Sinnsuche erweitern.

Durch den Erwerb von Fähigkeiten erweitert dass offene komplexe System nach und nach seinen Handlungsspielraum. Aus einem reflexartig reagierendem Organismus (Homöostase) wird ein mit bewusster Intention handelnder Organismus (Allostase).

Diese sukzessive Erweiterung des Handlungsspielraums des offenen komplexen System nennt sich auch Entwicklung. Durch die chronologische Reifung des Körpers, der Emotionen, des Geistes, der Sexualität und der Spiritualität kann sich dass offene komplexe System immer optimaler selbst regulieren:

Der Grund: Wachstum vermittelt keine Fähigkeiten, das kann nur Entwicklung

Die meisten Menschen setzen Wachstum und Entwicklung gleich. Sie gehen davon aus, dass Entwicklung eine automatische Folge des Wachstums sei. Dabei gibt es zwischen beiden Vorgängen einen gehörigen Unterschied. Wachstum produziert eine Zunahme an Masse und Größe, während Entwicklung die Fähigkeit hervorbringt, diese quantitative Zunahme optimal im System zu integrieren. Wachstum produziert also Quantität, während Entwicklung die dazu gehörige Qualität liefert. Wachstumsschübe sind zwar für die Entwicklung des Systems wichtig. Anschließend muss es aber immer ein Wachstumsplateau (also kein Wachstum) geben, eine Periode der Neuorganisation, in welcher kybernetische Fähigkeiten in Bezug auf den quantitativen Zuwachs im System entwickelt werden.

Dieser Vorgang kann gut mit dem Wachstum von Städten verglichen werden. Jedes Mal, wenn Menschen neue Häuser bauen und bewohnen, muss auch an den passenden Infrastrukturen gearbeitet werden. Sonst droht eine Slum-Bildung. Diese Slums betreffen dann nicht nur den Ort, wo sie entstehen, sondern die Stadt als Ganzes. Denn die neuen Bewohner sind fortan Benutzer der Ressourcen vor Ort, z.B. Strom und Wasser. Sie benutzen auch Straßen und öffentliche Verkehrsmittel, was den Charakter der Stadt als Ganzes verändert. Vor allem, wenn es um unsachgemäße Abfallprodukte in Flüssen und Landflächen geht, macht sich der Zuwachs bemerkbar. Städte, die sich auf eine solche Weise zum Moloch entwickeln, drohen irgendwann im Chaos zu versinken. Zunächst bricht die Infrastruktur zusammen. Es gibt Korruption statt effiziente Verwaltung. Straßengangs statt Polizeipräsenz prägen dann den Charakter der Stadt. Schnell können Strukturen nicht mehr wie intendiert verwendet werden, indem z.B. Parks nicht mehr sicher sind. Läden machen dicht, weil sich die Einwohner zum Einkaufen nur noch in sichere “Shopping Malls” trauen. Wenn öffentlicher Transport nicht funktioniert oder nicht vorhanden ist, keine vernünftige Verkehrsplanung betrieben wird, kommen die Bewohner innerhalb der Stadt auch immer langsamer voran. Es folgt immer mehr auch der Verfall von Strukturen, da Gelder für die Wartung irgendwo versacken. In der Stadt bilden sich nun autonome Zonen wie eben Slums aber auch “gated Communities”, die nach außen auch mit Waffengewalt verteidigt werden.

Im menschlichen Organismus sieht man bei einem Fehlen von kybernetischen Fähigkeiten ebenfalls Verfallsstrukturen, also Symptome. Auch autonome Prozesse sind bekannt, z.B. Krebs. Dieser macht sich ohne Rücksicht auf das übrige Gewebe breit, was im Übrigen ein sehr schönes Beispiel für Wachstum ohne Entwicklung darstellt. Ein solch exponentielles Wachstum führt also früher oder später immer zum Kollaps des Systems. Es fängt an sich selbst zu zerstören:

Das Problem ist, dass unsere Gesellschaft nur auf Wachstum ausgerichtet ist, sich jedoch mit Entwicklung wenig beschäftigt:

“Wir sollten uns viel öfter die Gesetzmäßigkeit der auf der folgenden Seite [Grafik oben] abgebildeten Wachstumskurse vor Augen führen, deren logistischer Verlauf für alle lebenden Systeme, ja selbst schon für Bakterien der gleiche ist: Wird durch alle möglichen Tricks der kritische Punkt der Rückkopplung einer normalen Wachstumsregulierung überschritten, ist der Kollaps praktisch vorprogrammiert. Die Meinung, man könne Wachstum schaffen, herrscht in der Öffentlichkeit immer noch vor. Systemverträgliches Wachstum kann jedoch nur aus einer Systemkonstellation heraus entstehen. Wie die logistische Kurve zeigt, ist gesundes Wachstum daher immer nur eine vorübergehende Phase als Übergang zu einem neuen stationären Zustand. Vor dem nächsten Wachstumsschub benötigt ein lebendes System dann erst mal eine Phase innerer Umstrukturierung. Doch weil in der Wachstumsphase alles so schön einfach war, würde man natürlich gerne auf der gestrichelten Kurve in unserer Grafik [grüne Linie in der Grafik oben] weitermarschieren.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, S. 81-82

Da hilft auch nicht, dass offene komplexe Systeme im Kleinen (Menschen) wie im Großen (Gesellschaften) regelmäßig kollabieren. Das zeigt der Blick in die Biographie der Betroffenen und in die Geschichte der Menschheit. Wollen wir also individuell und kollektiv den sich ständig wiederholenden Kollaps verhindern, müssen wir dringend verstehen, was Entwicklung eigentlich ist und wie diese sich optimalerweise entfalten sollte. Das Ziel ist dabei klar, es geht um die Metamorphose von der Homöostasefähigkeit zur Allostasefähigkeit:

“Dabei wäre es eminent wichtig, im Wachstum gelegentlich innezuhalten und entsprechend umzustrukturieren, zu reifen, eine Metamorphose durchzumachen. Regulierende Rückkopplungen, die eben dies ermöglichen würden, werden jedoch überhört, überspielt, man hält nicht inne, nimmt vielmehr Kredite auf, arbeitet mit Dumpingpreisen, und wenn auch das nichts mehr nutzt, ruft man nach Subventionen der öffentlichen Hand.”

Frederic Vester, Die Kunst, vernetzt zu denken, S. 81-82

Bei der Entwicklung spielt das Konzept der Reifung eine wichtige Rolle. Sie kann als ein Maßstab für funktionale Fähigkeiten gesehen werden. Damit ist gemeint, dass Fähigkeiten, die das offene komplexe System wirklich zur optimalen Funktion benötigt, tatsächlich auch vorhanden und verfügbar sind. Die Handlungsmacht des Betreffenden muss dabei grundsätzlich von einem Verständnis für die Konsequenzen der eigenen Handlungen getragen sein:

“Kurz gesagt, ein Mensch kann nur dann in seiner körperlichen Kraft und Selbstbestimmung wachsen, wenn er solche Verknüpfungen von Wissen und Gefühlen aufbaut, dass das, was er zu tun wählt, eher kreativ als destruktiv, eher sozial als unsozial ist.
Nach diesen Maßstäben könnte man sagen, dass ein Mensch – ob er nun fünf oder fünfzig Jahre alt ist – nur dann richtig reift, wenn seine Macht über seine Umwelt mit einem wachsenden Bewusstsein dafür einhergeht, was mit seinem Tun verbunden ist. Wenn seine Durchsetzungskraft voranschreitet, während seine Verständnisfähigkeit hinterherhinkt, ist er in seiner psychologischen Entwicklung rückständig – und es ist gefährlich, ihn in seiner Nähe zu haben.”

Harry A. Overstreet, The Mature Mind, 1949, S. 14

Um Konsequenzen der eigenen Handlungen richtig einschätzen zu können, muss der Geist gereift sein. Was aber die meisten Menschen nicht wissen oder jedenfalls nicht verstanden haben ist, dass die mentale Reife nicht im luftleeren Raum entsteht, sondern auf der körperlichen und emotionalen Reifung aufbaut:

“Gesamtstrukturen sind integrativ und lösen einander nicht ab: jede geht aus der vorhergehenden hervor, indem sie sie als untergeordnete Struktur integriert, und bereitet die nächste vor, indem sie sich früher oder später selbst integriert.”

Jean Piaget, Die Psychologie des Kindes, S. 113

Diese Tatsache muss sich natürlich auch in jeder Therapie auswirken, welche die Metamorphose des menschlichen Organismus zur Allostasefähigkeit effektiv begleiten möchte. Die Historie des Systems muss auf einen Mangel an Fähigkeiten abgesucht werden, die für die Allostasefähigkeit unerlässlich sind. Dabei muss zeitlich in der Historie des Systems sehr früh angefangen werden:

“Wenn das Kind zum Teil den Erwachsenen erklärt, muß man auch sagen, daß jede Entwicklungsstufe zum Teil für die folgende verantwortlich ist. Das ist in der Zeit besonders klar, da das Kind noch nicht sprechen kann. Man kann sie die „senso-motorische“ Stufe nennen, weil das Kleinkind, mangels einer symbolischen Funktion, noch kein Denken und keine Affektivität zeigt, die mit Vorstellungen verbunden wären, durch die es Personen oder Gegenstände in ihrer Abwesenheit bezeichnen könnte. Doch trotz dieser Lücken ist die geistige Entwicklung im Laufe der ersten achtzehn Monate des Lebens besonders rasch und besonders wichtig, weil das Kind auf dieser Stufe die Gesamtheit der kognitiven Substrukturen aufbaut, die als Ausgangspunkt für seine späteren perzeptiven und intellektuellen Konstruktionen dienen, und ebenso eine gewisse Zahl elementarer affektiver Reaktionen, die zum Teil seine kommende Affektivität bestimmen.”

Jean Piaget, Die Psychologie des Kindes, S. 11

Den groben Aufbau dieser Stufen (Ontogenese) sehen Sie in der folgenden Grafik, in welcher die Stufen als verschachtelte Hierarchie dargestellt werden. Die mentale Entwicklung ist zwar für die kognitiven Fähigkeiten ausschlaggebend, baut aber auf vorhergehenden Stufen auf:

Somit sucht eine wirklich Integrale Medizin zunächst nach allen Entwicklungslücken, die eine gesunde Ausprägung der menschlichen Vernunft verhindern, und korrigiert diese:

Somit sucht eine wirklich Integrale Medizin zunächst nach allen Entwicklungslücken, die eine gesunde Ausprägung der menschlichen Vernunft verhindern, und korrigiert diese. Der mit der Vernunftsfähigkeit einhergehende Zustand der Reife (Volljährigkeit) sollte optimalerweise ca. mit dem 21. Lebensjahr erreicht sein. Eine mangelhafte Allostasefähigkeit belegt allerdings, dass dies bei der überwiegenden Anzahl an Menschen nicht der Fall gewesen ist. Eine durch die Vernunft bedingte Reife muss somit nachträglich hergestellt werden, wenn Gesundheit durch Selbstregulation eintreten sollen.

Im nächsten Artikel erfahren Sie welche Behandlungsschwerpunkte sich aus den biokybernetischen Regeln ergeben.

Bilder: wenn nicht weiter gekennzeichnet eigenes Werk/Canva; 5 Wandlungsphasen: Johannes Sense Wikipedia; Schilddrüsenkreislauf: Amin Kübelbeck, Wikipedia.